Chatkontrolle, Mädchen mit Handy
Chatkontrolle, Mädchen mit Handy
Bildquelle: Tati Odintsova, Lizenz

Führende Wissenschaftler warnen: Neuer EU-Vorschlag zur Chatkontrolle bleibt hochriskant

18 führende europäische Experten aus den Bereichen Cybersicherheit und Datenschutz warnen vor dem neuen EU-Vorschlag zur Chatkontrolle.

Nachdem die Verpflichtung zur „Chatkontrolle“ nach öffentlichem Protest aus dem EU-Gesetzentwurf gestrichen wurde, schien dies ein Erfolg für Datenschützer zu sein. Nun warnen jedoch 18 führende europäische Experten aus den Bereichen Cybersicherheit und Datenschutz eindringlich: Der aktuelle EU-Vorschlag zur Chatkontrolle berge weiterhin „hohe Risiken für die Gesellschaft ohne klaren Nutzen für Kinder“.

Heute findet die Abstimmung statt

Ihr offener Brief erscheint kurz bevor die EU-Ratsbotschafter den Vorschlag am heutigen 19. November verabschieden sollen. Eine Zustimmung würde die Position der EU-Regierungen festlegen und voraussichtlich im Dezember zur formellen Annahme führen. Dies wäre gefolgt von kontroversen Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament im neuen Jahr.

Im Zentrum des Streits steht die Verordnung zur Bekämpfung des sexuellen Kindesmissbrauchs (CSAR). Nach breiten Protesten hat man die Pflicht zum Scannen privater Kommunikation aus dem Entwurf des EU-Rates gestrichen. Eine weitere Klarstellung vom 13. November bestätigte: „Diese Verordnung verpflichtet Anbieter nicht zur Aufdeckung.“ Anderenfalls hätte der Messenger Signal den europäischen Raum nicht mehr bedient. Die Betreiber von Threema und WhatsApp hatten sich in der Zwischenzeit ebenfalls kritisch geäußert.

BKA

EU-Vorschlag zur Chatkontrolle: „Der Kampf geht nächstes Jahr weiter!

Patrick Breyer spricht in seiner Einschätzung lediglich von einem Teilerfolg. „Wir haben die verpflichtende Chatkontrolle durch die Hintertür verhindert. Aber geplant sind weiter anonymitätszerstörende Alterskontrollen und ‚freiwillige‘ Massenscans. Der Kampf geht nächstes Jahr weiter!

Cybersicherheitsexperten von Institutionen wie der ETH Zürich, der KU Leuven und dem Max-Planck-Institut bekräftigen nun diese Warnung. Sie argumentieren, dass zwei Kernelemente des überarbeiteten Ratsvorschlags für neue, inakzeptable Gefahren sorgen.

Kritikpunkte der Experten

Fehleranfällige ‚freiwillige‘ KI-Chatkontrolle erzeugt Falschmeldungen. Anders als der vorherige Vorschlag weitet der neue Text das massenhafte Scannen privater Kommunikation auf automatisierte KI-basierte Textanalyse aus, um nach sexualisierter Ansprache von Kindern zu suchen. Die Experten warnen: Dies werde unschuldige Menschen erfassen. „Die aktuelle KI-Technologie ist bei weitem nicht präzise genug für diese Aufgaben.

    Chatkontrolle, Security by Design

    Der erweiterte Anwendungsbereich öffne „die Tür, um einen größeren Teil der Konversationen zu überwachen, ohne Garantie für besseren Kinderschutz.“ Es bestehe ein „hohes Risiko, den Schutz insgesamt zu verringern, indem Ermittler mit Falschbeschuldigungen überflutet werden und echte Fälle nicht mehr verfolgen können.

    Verpflichtende Alterskontrolle diskriminiert und verletzt die Privatsphäre. Der Ratsvorschlag würde zudem eine verpflichtende Altersüberprüfung und -einschätzung durch App-Stores und private Messenger- und E-Mail-Dienste einführen. Angeblich soll dies unter Wahrung der Privatsphäre geschehen. Die Akademiker bezeichnen dies als gefährlich und undurchführbar:

    Eine Alterseinschätzung ist mit der derzeitigen Technologie nicht datenschutzfreundlich möglich, da sie biometrische, verhaltensbezogene oder kontextuelle Informationen benötigt… Sie (die Chatkontrolle) schafft Anreize für die Sammlung und Ausbeutung von (Kinder-)Daten. Wir kommen zu dem Schluss, dass die Alterseinschätzung ein unverhältnismäßiges Risiko schwerwiegender Datenschutzverletzungen und Diskriminierung birgt – ohne Garantie für die Wirksamkeit.

      Die Alternative – Alterskontrolle anhand amtlicher Dokumente – würde einen „erheblichen Teil der Bevölkerung“ von wesentlichen Online-Diensten ausschließen, insbesondere schutzbedürftige Personen ohne digitale Ausweise.

      Besonders besorgniserregend: Alterskontrollen ließen sich leicht umgehen und könnten Kinder auf gefährlichere Plattformen drängen. „Kinder können auf Anbieter außerhalb der EU ausweichen oder VPNs* nutzen… Dies kann zu höheren Risiken führen, da diese alternativen Dienste oft Sicherheitsrisiken (schwache oder fehlende Verschlüsselung) und umfangreiches Tracking aufweisen – manchmal zu bösartigen Zwecken.

      Chatkontrolle

      Ausblick der Chatkontrolle

      Sollte der Rat die Warnungen der Akademiker nicht beherzigen, dürften Alterskontrollen und das „freiwillige“ massenhafte Scannen zum zentralen Streitpunkt in den Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament im nächsten Jahr werden. Dessen Mandat zielt darauf ab, verpflichtende Alterskontrollen zu streichen und das Scannen auf Kommunikation von Tatverdächtigen zu beschränken.

      Auch Italien stellte letzte Woche in Frage, ob im Rahmen freiwilliger Chatkontrolle das Recht auf Privatsphäre der Nutzer ausreichend gewahrt werden könne. Die italienische Regierung befürchte, das Instrument könne auch auf andere Delikte ausgeweitet werden. Daher habe man Schwierigkeiten, den Vorschlag zu unterstützen. Auch Polen behielt sich eine weitere Prüfung vor.

      Über die Unterzeichner

      Der Brief wurde von 18 renommierten Professoren und Forschern für Cybersicherheit, Kryptographie und Datenschutz unterzeichnet. Darunter von der Universität Aarhus (Dänemark), der École Polytechnique (Frankreich), des CISPA Helmholtz-Zentrum für Informationssicherheit (Deutschland), der ETH Zürich (Schweiz) und der KU Leuven (Belgien).

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      Lars Sobiraj

      Über

      Lars Sobiraj fing im Jahr 2000 an, als Quereinsteiger für verschiedene Computerzeitschriften tätig zu sein. 2006 kamen neben gulli.com noch zahlreiche andere Online-Magazine dazu. Er ist der Gründer von Tarnkappe.info. Früher brachte Ghandy, wie er sich in der Szene nennt, an verschiedenen Hochschulen und Fortbildungseinrichtungen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern bei, wie das Internet funktioniert. In seiner Freizeit geht er am liebsten mit seinem Hund spazieren.