Chatkontrolle
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Bildquelle: stockcake

Chatkontrolle: Dänemark macht Druck auf das Europäische Parlament

Mit einer regelrechten Desinformationskampagne versucht Dänemark den Widerstand einiger Parlamentarier gegen die Chatkontrolle zu brechen.

Mit nachweislich falschen Behauptungen versucht der dänische EU-Ratsvorsitz, am 14. Oktober die umstrittene „Chatkontrolle 2.0“ (offiziell: CSAR-Verordnung) gegen den Widerstand mehrerer EU-Staaten durchzudrücken. Davor warnt der Jurist und ehemalige Europaabgeordnete Dr. Patrick Breyer (Piratenpartei).

Dänischer Ratsvorsitz erfindet Krisensituation

Konkret behauptet der dänische Ratsvorsitz, das EU-Parlament werde die bis April 2026 geltende, für Anbieter freiwillige Ermächtigung zur Chatkontrolle nicht verlängern, wenn der Rat nicht jetzt der viel weiter reichenden, für alle Anbieter verpflichtenden Chatkontrolle 2.0 zustimmt. „Eine dreiste Lüge“, bezeichnet Breyer diese Aussage. „Es gibt keine solche Entscheidung oder Übereinkunft des Europäischen Parlaments. Die Frage wurde nicht einmal beraten. Es existiert schon kein Gesetzentwurf zur Verlängerung der bisherigen Regelung, mit dem sich das EU-Parlament hätte befassen können. Hier wird eine Krisensituation erfunden, um eine in der freien Welt einzigartige Überwachungsinfrastruktur durchzudrücken.

Die vorherige Ratspräsidentschaft hatte vorgeschlagen, die Chatkontrolle freiwillig statt verpflichtend einzuführen und verschlüsselte Kommunikation auszunehmen. Dänemark hat diese Abschwächungen wieder rückgängig gemacht. Es dürfe sehr schwierig sein, neue Ansätze zu finden, die bei einer Mehrheit der Mitgliedstaaten auf Zustimmung stoßen. Deswegen legte Dänemark einfach den alten Gesetzentwurf erneut vor.

Scheinargument Zeitdruck, um Chatkontrolle durchzudrücken

Besonders brisant für Deutschland: Die Bundesregierung aus Union und SPD steht wegen der Chatkontrolle laut Breyer vor einer „Zerreißprobe„. Während die SPD-Justizministerin Stefanie Hubig die Pläne zur Chatkontrolle 2.0 als Grundrechtsverletzung ablehnt, drängt das CSU-geführte Bundesinnenministerium unter Alexander Dobrindt auf einen Koalitionskompromiss. Dobrindts Ministerium will bei der anstehenden EU-Ratsabstimmung am 14. Oktober den Weg für eine massenhafte verdachtslose Chatkontrollen frei machen.

Das deutsche Innenministerium behauptet, man müsse verhindern, dass die aktuelle, für Anbieter freiwillige Ermächtigung zum Scannen im April 2026 auslaufe. „Das ist eine bewusste Täuschung, um einen grundrechtswidrigen Deal zu erzwingen“, hält Breyer dem entgegen. „Fakt ist: Selbst bei einer Mehrheit im Rat am 14. Oktober für die radikale Chatkontrolle 2.0 könnte das Gesetz aufgrund der üblichen Verhandlungen mit dem Parlament und der nötigen technischen Umsetzung realistischerweise nicht vor April 2026 in Kraft treten. Eigentlich erst lange nachdem die jetzige Übergangsregelung ausläuft. Der angebliche Zeitdruck ist ein reines Druckmittel, um die Chatkontrolle durchzusetzen und das digitale Briefgeheimnis zu zerstören„, glaubt Breyer.

Chatkontrolle

Fehlerquote der Erkennung liegt bei bis zu 75 Prozent!

Im Koalitionsvertrag haben Union und SPD vereinbart, die Vertraulichkeit privater Kommunikation solle „grundsätzlich gesichert“ bleiben. Breyer kritisiert ferner, die Scan-Anordnungen unterliegen derart geringen Voraussetzungen, dass praktisch alle großen Kommunikationsdienste flächendeckend die private Kommunikation aller Nutzer scannen müssten. Es gehe eben nicht nur um „verdächtiges Bildmaterial“ im Einzelfall. Wenn der Algorithmus anschlägt, wird potenziell der gesamte Chatverlauf an eine neue EU-Behörde und die Polizei übermittelt, nicht nur das vom Algorithmus verdächtigte Bildmaterial. Zudem liege die Fehlerquote der Erkennung in der Praxis bei 50–75 %. Kürzlich hatten zahlreiche Wissenschaftler in einem offenen Brief eindringlich vor der Einführung der Chatkontrolle in der geplanten Form gewarnt.

Minister, Polizei, Bundeswehr und Geheimdienste sollen von der Chatkontrolle ausgenommen werden

Anrüchig sei insbesondere, dass ausgerechnet die bekanntlich wiederholt problematischen Chatverläufe von Polizisten, Soldaten und Geheimdienstlern sowie der für sie zuständigen Minister laut Artikel 7 von der Chatkontrolle ausgenommen werden sollen. Offenbar will man von der fehlerhaften Software nicht selbst betroffen sein. Darüber haben wir bereits letztes Jahr berichtet.

Jetzt handeln: Digitales Briefgeheimnis retten

Das ist ein Big-Brother-Angriff auf unsere privaten Nachrichten und Fotos – als würde die Post jeden einzelnen Brief öffnen und durchschnüffeln“, warnt Breyer. „Die Chatkontrolle wird Sexualstraftäter nicht aufhalten, sondern die Polizei mit Falschmeldungen überfluten und junge Menschen für einvernehmliches Sexting kriminalisieren. Wenn die Chatkontrolle 2.0 kommt, wird Europa die erste liberale Demokratie der Welt sein, die massenhafte verdachtslose Chatkontrollen einführt – und jedes Smartphone zu einer Art digitalen Wanze macht.

Die Chatkontrolle und eine sichere Verschlüsselung zur gleichen Zeit ist unmöglich

Signal-Chefin Meredith Whittaker hob bereits letztes Jahr in ihrem Statement hervor, dass es keine Möglichkeit gebe, verschlüsselte Inhalte auszulesen ohne die Integrität der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung aufs Spiel zu setzen. Eine sichere Kommunikation in Zeiten der Chatkontrolle sei schlichtweg nicht möglich. Es gebe immer wieder Versuche, den Bürgerinnen und Bürgern diese neue Form der Überwachung als harmlos zu verkaufen. Die Befürworter hätten einfach die Bezeichnung geändert, damit es sich harmloser anhört. Whittaker bezeichnete den Vorstoß als einen waschechten „Marketing-Gag„.

Auch die Behörde des Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit, BfDI, gab letztes Jahr bekannt, der Verordnungsentwurf respektiere „weder die Vorgaben zur Verhältnismäßigkeit noch die Grundrechte, die deutschen Bürgerinnen und Bürgern nach der EU-Grundrechte-Charta und nach dem Grundgesetz zustehen„.

Kann man die digitale Wanze noch verhindern?

Dr. Patrick Breyer ruft dazu auf, das Bundesinnenministerium (Telefon 030 18681-0) und das Bundesjustizministerium (030 18580-0) anzurufen. Bei dem Gespräch solle man ein klares NEIN der Ministerien zur Chatkontrolle im aktuell geplanten Rahmen verlangen.

Lars Sobiraj

Über

Lars Sobiraj fing im Jahr 2000 an, als Quereinsteiger für verschiedene Computerzeitschriften tätig zu sein. 2006 kamen neben gulli.com noch zahlreiche andere Online-Magazine dazu. Er ist der Gründer von Tarnkappe.info. Früher brachte Ghandy, wie er sich in der Szene nennt, an verschiedenen Hochschulen und Fortbildungseinrichtungen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern bei, wie das Internet funktioniert. In seiner Freizeit geht er am liebsten mit seinem Hund spazieren.