erweiterte Chatkontrolle, Gruppe Jugendlicher mit ihrem Smartphone
Good bye Anonymität? Kommt die erweiterte Chatkontrolle?
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Erweiterte Chatkontrolle soll heute mit Verzicht auf Anonymität beschlossen werden

Heute soll eine stark erweiterte Chatkontrolle von der EU beschlossen werden. Der Gesetzesvorschlag wäre ein echtes Datenschutzdesaster!

Einen Tag vor einer entscheidenden Sitzung in Brüssel schlug der Jurist und ehemalige Europaabgeordnete Dr. Patrick Breyer Alarm. Mit einem „durchsichtigen Taschenspielertrick“, wie er es nennt, will die EU eine erweiterte Chatkontrolle „durch die Hintertür durchsetzen„. Diese wäre sogar noch weitreichender als der ursprünglich abgelehnte Plan. Heute könnte das Gesetzespaket im Rahmen einer EU-Arbeitsgruppensitzung verabschiedet werden.

Kommt die erweiterte Chatkontrolle durch die Hintertür?

„Was hier passiert, ist eine politische Täuschung ersten Ranges“, warnt Patrick Breyer. „Deutschland hat nach lautstarken Bürgerprotesten Nein zur anlasslosen Chatkontrolle gesagt. Jetzt kommt sie durch die Hintertür zurück – getarnt, gefährlicher und umfassender als je zuvor. Deutschland soll für dumm verkauft werden.“ Laut Breyer entpuppt sich der neue Kompromissvorschlag als Trojanisches Pferd, das drei Giftpfeile für die digitale Freiheit enthält. Netzpolitik.org veröffentlichte vorgestern das entsprechende Verhandlungsprotokoll. Folgendes ist geplant:

Verpflichtende Chatkontrolle maskiert als „Risikominderung“

Offiziell hat man die expliziten Scan-Pflichten gestrichen. Doch ein Schlupfloch in Artikel 4 des neuen Entwurfs verpflichtet Anbieter wie WhatsApp oder Signal zu „allen angemessenen Risikominderungsmaßnahmen“. Das bedeutet, dass man die Betreiber unter diesen Umständen weiterhin zum Scannen aller privaten Nachrichten zwingen könnte. Das gilt natürlich auch, sollten die Chats Ende-zu-Ende-verschlüsselt sein. Signal hatte schon im Februar angekündigt, die Bevölkerung der EU in dem Fall nicht mehr mit ihrem Online-Dienst zu versorgen. Auch Threema beurteilte das geplante Vorgehen im Vorfeld als höchst bedenklich.

„Das Schlupfloch macht die viel gelobte Streichung der Aufdeckungspflichten wertlos und hebelt ihre vermeintliche Freiwilligkeit aus. Sogar clientseitiges Scannen (CSS) auf unseren Smartphones könnte bald Pflicht sein – das Ende sicherer Verschlüsselung“, schreibt Breyer.

Chatkontrolle, Lorna Schütte
Grafik von Lorna Schütte, thx! – (CC BY 3.0 DE)

Totalüberwachung von Texten und Sprache

Die nun vermeintliche freiwillige Chatkontrolle geht weit über das bisher diskutierte Scannen von Fotos, Videos und Links hinaus. Künftig sollen Algorithmen und die Künstliche Intelligenz massenhaft private Chat-Texte und Metadaten aller Bürger nach verdächtigen Schlüsselwörtern und Signalen durchsuchen. Anlasslos, versteht sich.

Keine KI kann zuverlässig zwischen einem Flirt, Sarkasmus und kriminellem ‚Grooming‘ unterscheiden“, warnt Breyer. „Stellen Sie sich vor, Ihr Handy scannt jedes Gespräch mit Ihrem Partner, Ihrer Tochter, Ihrem Therapeuten und leakt es, nur weil irgendwo das Wort ‚Liebe‘ oder ‚Treffen‘ vorkommt. Das ist kein Kinderschutz – das ist digitale Hexenjagd. Das Ergebnis wird eine Flut von Falschmeldungen sein, die unschuldige Bürger unter Generalverdacht stellt und massenhaft private, sogar intime Chats, Fotos und Videos Fremden preisgibt.“ Bereits heute sind nach Angaben des BKA rund 50 % aller im Rahmen der freiwilligen „Chatkontrolle 1.0“ erfolgten Meldungen strafrechtlich irrelevant – das entspricht Zehntausenden geleakter Chats pro Jahr.

Digitaler Hausarrest für Teenager + das geplante Ende der anonymen Kommunikation

Im Windschatten der Debatte um die Chatkontrolle will man zwei weitere folgenschwere Maßnahmen realisieren:

Abschaffung des Rechts auf anonyme Kommunikation: Um wie im Text gefordert Minderjährige identifizieren zu können, müsste jeder Bürger künftig zur Eröffnung eines E-Mail- oder Messenger-Kontos seinen Ausweis vorlegen oder sein Gesicht scannen lassen. „Das ist das faktische Ende der anonymen Kommunikation im Netz – ein Desaster für Whistleblower, Journalisten, politische Aktivisten und Hilfesuchende, die auf den Schutz der Anonymität angewiesen sind“, warnt Breyer. Fraglich wie man das durchsetzen will, so gibt es neben XMPP (ehemals Jabber) und Matrix noch andere Apps bzw. Programme, mit denen man bis dato anonym chatten kann. Will man diese verbieten oder ihnen vorschreiben, wie man sie nutzen muss?

Geplant ist auch eine Art digitaler Hausarrest. Teenagern unter 16 Jahren droht mit dem Gesetzentwurf der pauschale Ausschluss von WhatsApp, Instagram, Online-Spielen und unzähligen anderen Apps mit Chatfunktion. Laut Breyer folge eine „digitale Isolation statt Aufklärung, Schutz durch Ausschluss statt Stärkung – das ist bevormundend, lebensfremd und pädagogischer Unsinn.

Bundesregierung muss ihr Veto einlegen!

Deutschland hat sich – von Justizministerin Stefanie Hubig (SPD) bis Unionsfraktionschef Jens Spahn (CDU) – in der Öffentlichkeit klar gegen die anlasslose Chatkontrolle positioniert. „Jetzt muss die Koalition Rückgrat beweisen!“, fordert Breyer. „Blockieren Sie diesen Mogelkompromiss im Rat und verlangen Sie Sofortkorrekturen zur Rettung der Freiheitsrechte aller Bürger. Das EU-Parlament hat parteiübergreifend gezeigt, wie Kinderschutz und digitale Freiheit zusammen gelingen können.

Breyer fordert folgende Sofortkorrekturen, bevor Deutschland zustimmt:

  • Keine verpflichtende Chatkontrolle durch die Hintertür: Artikel 4 muss klarstellen, dass Scans nicht als „Risikominderung“ erzwungen werden können.
  • Keine KI-Chatpolizei: Scans müssen auf bekannte Missbrauchsbilder beschränkt bleiben.
  • Keine Massenüberwachung: Nur gezielte Überwachung Verdächtiger mit richterlicher Anordnung.
  • Recht auf Anonymität wahren: Die Pflicht zur Altersverifizierung muss ersatzlos gestrichen werden.

Man verkauft uns Sicherheit, aber liefert eine Totalüberwachungsmaschine“, so Breyers Fazit. „Man verspricht Kinderschutz, aber bestraft unsere Kinder und kriminalisiert die Privatsphäre. Das ist kein Kompromiss – das ist ein Betrug am Bürger. Deutschland darf sich nicht zum Komplizen machen.

Bleibt abzuwarten, ob in der heutigen Abstimmung die erweiterte Chatkontrolle tatsächlich durchgewunken wird.

Lars Sobiraj

Über

Lars Sobiraj fing im Jahr 2000 an, als Quereinsteiger für verschiedene Computerzeitschriften tätig zu sein. 2006 kamen neben gulli.com noch zahlreiche andere Online-Magazine dazu. Er ist der Gründer von Tarnkappe.info. Früher brachte Ghandy, wie er sich in der Szene nennt, an verschiedenen Hochschulen und Fortbildungseinrichtungen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern bei, wie das Internet funktioniert. In seiner Freizeit geht er am liebsten mit seinem Hund spazieren.