Die Chatkontrolle ist vorerst auf Eis. Aufgrund des Drucks mehrerer Länder wird die EU-Verordnung am morgigen Mittwoch nicht verabschiedet.
Der EU-Rat für Justiz und Inneres wird morgen nicht wie geplant seine Position EU-Verordnung zur „Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“, der sogenannten Chatkontrolle, die das Ende privater Nachrichten und sicherer Verschlüsselung eingeläutet hätte, verabschieden.
Abstimmung über Chatkontrolle verschoben
Der Grund dafür ist, dass es zurzeit für die hochumstrittene und einzigartige Verordnung nicht die erforderliche Mehrheit gibt. Unter anderem Deutschland, Österreich, Polen und Estland positionieren sich klar gegen den aktuellen Entwurf. Aber auch Frankreich hat dazu noch Fragen. Damit wird die geplante Abstimmung nun bereits zum zweiten Mal verschoben.
Der Europaabgeordnete der Piratenpartei, digitale Freiheitskämpfer und Verhandlungsführer seiner Fraktion im Europäischen Parlament, Dr. Patrick Breyer, jubelt:
„Ohne das Engagement und den Widerstand von unzähligen Personen und Organisationen in Europa hätten die EU-Regierungen morgen totalitäre flächendeckende Chatkontrollen beschlossen, das digitale Briefgeheimnis und sichere Verschlüsselung beerdigt. Dass wir das erstmal verhindert haben, gehört gefeiert! Besonders freut mich, dass die millionenschwere professionelle Lobby- und Desinformationskampagne eines Netzwerks aus EU-Kommission und vermeintlichen Kinderschützern vorerst gescheitert ist.
Bundesregierung muss ihre Hausaufgaben machen
Jetzt muss die Bundesregierung endlich ihre Hausaufgaben machen und sich mit anderen kritischen Staaten auf gemeinsame Forderungen verständigen. Es reicht eben nicht, nur gegen die Chatkontrolle zu sein. Die verdachtslose, fehleranfällige Durchleuchtung privater Nachrichten ist der toxischste Teil des Verordnungsentwurfs, aber die Probleme gehen weit darüber hinaus. Wir brauchen deshalb einen neuen Ansatz, der auf vorbeugenden Kinderschutz statt Massenüberwachung und Bevormundung setzt! Der letzte ‚Kompromissvorschlag‘ der Ratspräsidentschaft muss in mindestens 5 Punkten grundlegend überarbeitet werden:
- Keine verdachtslose Chatkontrolle: Anstelle flächendeckender Nachrichten- und Chatkontrolle soll die Justiz nur die Durchsuchung der Nachrichten und der Uploads von Verdächtigen anordnen können. Nur so kann vermieden werden, dass eine unverhältnismäßige Verordnung zur Massenüberwachung zwangsläufig vor Gericht scheitert und für Kinder überhaupt nichts erreicht wird. Auch eine ungezielte ‚freiwillige Chatkontrolle‘ der Internetkonzerne darf es nicht geben.
- Sichere Verschlüsselung schützen: Das sogenannte client-side scanning zur Unterwanderung sicherer Verschlüsselung muss ausdrücklich ausgeschlossen werden. Allgemeine Bekenntnisse zu Verschlüsselung im Gesetzestext sind nichts wert, wenn noch vor der Verschlüsselung durchleuchtet und ausgeleitet wird. Unsere persönlichen Geräte dürfen nicht zu Scannern pervertiert werden.
- Anonymität schützen: Streichung verpflichtender Altersüberprüfungen durch alle Kommunikationsdienste, um das Recht auf anonyme Kommunikation zu retten. Whistleblower drohen zu verstummen, wenn sie vor Leaks dem Kommunikationsdienst gegenüber Ausweis oder Gesicht vorzeigen müssen.
Löschen statt sperren!
- Löschen statt Sperren: Anstatt zu versuchen und daran zu scheitern, Ausbeutungsdarstellungen über Zugangsanbieter oder Suchmaschinen zu blockieren, sollte es für Hoster und Strafverfolgungsbehörden zur Pflicht werden, gemeldete Ausbeutungsdarstellungen an der Quelle zu löschen bzw. löschen zu lassen.
- Keine Appzensur für junge Menschen: Jugendliche zum Schutz vor Grooming ganz von Allerweltapps wie Whatsapp, Instagram oder Games ausschließen zu wollen, ist völlig inakzeptabel. Stattdessen müssen die Voreinstellungen der Dienste datenschutzfreundlicher und sicherer werden.
Der Abgeordnete Dr. Patrick Breyer hat zu diesem Thema ein eigenes Informationsportal auf die Beine gestellt, wo man sich über die weiteren Details informieren kann.
Minderjährige schütze ohne die Grundrechte zu opfern
Anja Hirschel, Informatikerin und Spitzenkandidatin der Piratenpartei für die Europawahl 2024, kommentiert die Entscheidung wie folgt:
„Der Vorstoß zur verdachtslosen Chatkontrolle ist ein tiefgreifender Angriff auf unsere Privatsphäre und beispiellos in der freien Welt. Er spaltet Kinderschutzorganisationen, Missbrauchsopfer, andere Interessengruppen, das Parlament und den Rat. Es ist an der Zeit für einen Neuanfang, der auf Konsens setzt. Ich bin überzeugt, dass wir Kinder und uns alle mit einem neuen Ansatz viel besser schützen können. Und das ohne unsere freiheitlichen Grundrechte zu opfern.“
Unterdessen werden die Verhandlungen im Europäischen Parlament morgen mit der wohl letzten Verhandlungsrunde fortgesetzt. Am 25. Oktober muss sich die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson im Zuge der Lobbyismus-Affäre um die Chatkontrolle vor dem LIBE-Kommittee verantworten.
Bereits am 26. Oktober soll der Innenausschuss (LIBE) über die Position des Europäischen Parlaments abstimmen und ein Trilog-Verhandlungsmandat erteilen, ohne dass eine Abstimmung im Plenum durch alle Abgeordneten geplant ist. Bis zum nächsten EU-Innenministertreffen im Dezember könnten sich dann auch die EU-Regierungen auf eine Position verständigt haben.
Chatkontrolle: aufgeschoben ist nicht aufgehoben
Die aktuelle Entwicklung ist durchaus ein Grund zur Freude. Man sollte dabei jedoch im Hinterkopf behalten, dass das Thema damit noch nicht ganz vom Tisch ist.