Ein geleaktes Dokument mit den Antworten der EU-Kommission zur geplanten Chatkontrolle bestärkt die wachsende Kritik.
Bei der geplanten Chatkontrolle müssten die Ermittler in ganz Europa geschätzte zehn Prozent Irrläufer bearbeiten. Bei einer Million untersuchten Dialogen würde das System somit in 100.000 Fällen zu Unrecht anschlagen. Sogar die EU-Kommission selbst rechnet mit vielen falschen Treffern bei der gezielten Suche nach Straftätern. Ganz genau wollte man sich nicht festlegen, wie hoch die Trefferwahrscheinlichkeit sein soll.
Chatkontrolle noch nicht ausgereift?
Die Algorithmen könne man künftig noch entsprechend trainieren. Mit solchen Aussagen versucht man die Angelegenheit positiv zu beleuchten. Die EU reagierte damit auf die von der Bundesregierung gestellten Rückfragen zum Gesetzespaket. Die Antworten sind nur für den Dienstgebrauch bestimmt. Die EU-Bürgerinnen und Bürger sollen sie nicht zu Gesicht bekommen.
Kommt der perfekte Überwachungsstaat?
Fest steht: Das Maßnahmenpaket der EU würde den Aufbau einer umfangreichen Überwachungsinfrastruktur erfordern. Internetdienste wären dazu verpflichtet, die Inhalte ihrer Nutzer auf bestimmte verräterische Keywords hin zu durchsuchen. Nach lautstarker Kritik aus den Reihen der Wissenschaft und Zivilgesellschaft hat die Bundesregierung einen Katalog mit kritischen Nachfragen an die EU-Kommission geschickt. Netzpolitik.org veröffentlichte heute die Antworten auf die 61 (!!!) gestellten Fragen zum Thema Chatkontrolle.
Client-Site-Scanning als Alternative
Um die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung nicht knacken zu müssen, schlägt die EU das sogenannte Client-Side-Scanning vor. Dabei überprüft die Kontroll-Software die zu verschickenden Medien auf dem eigenen Gerät. Ob es sich bei den Urlaubsfotos um Kinder in Bikinis or Shorts am Strand oder anzügliche Fotos handelt, derartige Zusammenhänge kann die Software naturgemäß nicht erkennen. Die Facebook-Mutter Meta verwendet kein Client-Side-Scanning, weil dies nach Angaben des Konzerns den Rechten ihrer Nutzer widersprechen würde.
Software könnte man auch problemlos missbrauchen
Problematisch ist auch, dass man die Suchbegriffe in verschiedenen Ländern einfach auf andere Themenbereiche ausweiten könnte. So wäre es theoretisch möglich, auch nach politisch ungewollten Inhalten zu suchen, um die Regierungsgegner ausfindig zu machen. Die EU-Kommission glaubt ernsthaft, nationale Behörden könnten sicherstellen, dass dies nicht geschieht. Aktuell würde die Anti-Grooming-Software dies auch gar nicht können. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
Antworten zur Chatkontrolle ausweichend und widersprüchlich
Die Initiative „Chatkontrolle stoppen“ hält die Antworten der EU-Kommission für „ausweichend“ und teilweils sogar für „widersprüchlich„. Auf manche Punkte hingegen würden die Antworten trotz konkreter Fragen gar nicht erst gar eingehen.
Was dort gefordert wird, sei technisch gesehen gar nicht möglich, heißt es weiter. Mit den Forderungen verstoße man nicht nur gegen die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger. Nein, man verleugnet damit auch die Realität, lautete die Einschätzung der Initiative.
Chatkontrolle stoppen: Online-Petition läuft
Auch wenn wir keine großen Freunde derartiger Datenkraken wie Campact sind: Auf ihrer Webseite gibt es eine Online-Petition, die man hier unterzeichnen kann.
Die NGO Digitalcourage sieht sich angesichts der geleakten Antworten der Kommission in ihrer Forderung, den Verordnungsvorschlag zur Chatkontrolle zurückzuziehen, bestärkt.
Ylva Johansson will das Gesetzespaket unbedingt
Konstantin Macher von Digitalcourage erklärt:
„An vielen Stellen hat die Kommission keine Antworten auf kritische Fragen. Wo sie doch konkret wird, sind die Antworten schockierend: Den geleakten Antworten zufolge würde die EU-Kommission beim Durchleuchten privater Chatinhalte eine Falscherkennungsrate von 10% in Kauf nehmen. Damit würden flächendeckend unzählige Personen zu unrecht schlimmster Verbrechen verdächtigt und ihre private Kommunikation an EU-Beamte ausgeleitet.
EU-Innenkommissarin Ylva Johansson versucht auf Biegen und Brechen, Verschlüsselung und damit das digitale Briefgeheimnis zu untergraben. Dabei hört sie weder auf die Wissenschaft, die vor den Gefahren für die IT-Sicherheit warnt, noch auf die Zivilgesellschaft. Die Chatkontrolle ist unvereinbar mit europäischen Grundrechten. Deshalb muss die Bundesregierung die EU-Kommission jetzt dazu bewegen, das vorgeschlagene Überwachungspaket zurückzuziehen, bevor weiterer Schaden damit angerichtet wird.“
Konstantin Macher, Digitalcourage