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Bildquelle: stockcake

Kommentar: Regulierungsbehörden üben Rache an Musk und Durow

Lange haben Internet-Mogule wie Musk oder Durow alle Gesetze ignoriert. Jetzt nicht mehr. Doch wie entwickelt sich das weiter? Ein Kommentar.

Unser Kommentar zum Verbot von X (ehemals Twitter) in Brasilien und der Verhaftung des Telegram-Chefs vor 8 Tagen. Übrigens hat der Oberste Gerichtshof Brasiliens im gleichen Urteil neben X auch sämtliche VPN-Dienste verboten. Lange konnten die CEOs die Meinungsfreiheit über die aktuelle Rechtslage stellen, doch die Behörden setzen sich jetzt massiv dagegen zur Wehr. Für Elon Musk ist das katastrophal, denn Brasilien gilt als ein Land, wo X von vielen Menschen aktiv genutzt wurde.

X in Brasilien gesperrt, Durow darf nicht ausreisen

Zwei Tage, nachdem Frankreich den CEO von Telegram, Pawel Durow, wegen einer Reihe von Anschuldigungen angeklagt hatte, ordnete Brasilien am Freitag die Sperre von Elon Musk’s Twitter-Nachfolger X an. Dies geschah, nachdem die Betreibergesellschaft von X ein Mandat zur Benennung eines rechtlichen Vertreters in Brasilien missachtet hatte. Auch wenn sich die Details der Fälle in wichtigen Punkten unterscheiden, geht es in beiden Fällen darum, dass demokratische Regierungen die Geduld mit cyberlibertären Tech-Mogulen verlieren. Zuvor haben sie womöglich so manchen Behörden ein paar Mal zu häufig auf der Nase herumgetanzt. Die schlagen jetzt kraftvoll und effektiv zurück.

TikTok in den USA auf der Kippe

Unser Kommentar basiert auf einer ausführlichen Analyse der Washington Post. Journalist Will Oremus merkt in seinem Beitrag an, dass es derzeit noch weitere Ziele gibt. So hat die US-Regierung im Mai ein Gesetz verabschiedet, welches zum Verbot von TikTok führen könnte. Nein, man muss sagen, wahrscheinlich führen wird. Denn ByteDance müsste ihre Plattform TikTok verkaufen, was sie aber nicht wollen.

Die Administration in Washington will verhindern, dass weiter von ihrer jüngeren Generation massenweise Daten in Richtung China abfließen, die man sehr effektiv auswerten kann. Außerdem kann ByteDance durch die Auswahl der anzuzeigenden Videos entscheiden, in welcher Weise die heutige Jugend in den USA und Europa durch die Videoclips beeinflusst wird. Sollte es künftig keinen US-Ableger als Betreiber für TikTok USA geben, dann erfolgt das Verbot. Das ist Joe Biden schlichtweg zu viel Macht auf einmal, der das entsprechende Gesetz längst unterzeichnet hat.

Die Behörden ziehen die Daumenschrauben an

Beendet scheint die Ära der Tech-Titanen zu sein, die einst freie Hand bei der Gestaltung der Online-Welt hatten. Zudem vermuteten ihre Geschäftsführer, dass sie von den Konsequenzen in der realen Welt verschont bleiben. Verbote ganzer Netzwerke waren bislang nur das Tagewerk autoritärer Regime wie Russland, Iran oder China. Doch statt weiter zu versuchen, mit Gesetzen zu regulieren, haben auch die westlichen Mächte nun die Daumenschrauben fester angezogen. Die Verhaftung eines Tech-CEO war bis letzte Woche undenkbar. Doch jetzt ist alles anders.

Das Pendel ist von einem öffentlichen Diskurs über das ‚Internet als Werkzeug für die Freiheit‘ zu einem ‚Internet als Bedrohung‘ umgeschlagen“, sagte Daphne Keller, Direktorin des Program on Platform Regulation am Cyber Policy Center der Universität Stanford in einem Kommentar. Keller arbeitete zuvor bei Google als Anwältin. Sie stellt auch fest, dass der Aufschrei nach der Durow-Festnahme kaum von irgendwo zu vernehmen war. Kaum ein Regierungsvertreter, Journalist oder jemand aus dem Volk hat sich deswegen großartig aufregt. Lediglich die EFF findet die Angelegenheit mehr als bedenklich. Die Frage ist: War die Rechtsdurchsetzung überfällig? Oder ist es vielmehr eine unheilvolle Wende hin zur staatlichen Repression des WWW?

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Kommentar: Musk und Durow als Vorreiter für freie Meinungsäußerung oder als Hüter ihres Geschäftsmodells?

Musk als auch Durow stilisieren sich als Vorreiter für freie Meinungsäußerung im Kampf gegen einen schleichenden globalen Zensurkomplex. Doch machen wir uns nichts vor. Musk tat seit der Übernahme des Mikroblogging-Dienstes kaum noch etwas gegen irreführende Links, Abzocke, überzogene Gewaltdarstellungen, Fake-News und vieles mehr. Er war vielmehr damit beschäftigt, die Anzahl der Mitarbeiter auf ein Minimum von Ja-Sagern einzustampfen. Wer seinen eigenen Kopf hatte, den hat man gnadenlos weggesäbelt. Die Stimmung ist viel aggressiver, geradezu unkontrolliert im Vergleich zu früher, als die Plattform noch Twitter hieß.

Und Durows Firma wurde stets nur aktiv, wenn es um Kinderpornos oder Terror ging. Ansonsten wurde kaum etwas gelöscht, gesperrt oder Daten preisgegeben. Ja, es gibt viele legale Inhalte bei Telegram. Aber dieser Dienst ist auch die Heimat zahlloser Cyberkrimineller. Von daher gerieten beide Chefs in die Kritik. Manche Kommentare gehen in die Richtung, sie hätten die Wahrung der Meinungsfreiheit nur genutzt, um durch mangelndes Einschreiten von den illegalen Inhalten zu profitieren. Doch so eindimensional ist das Ganze nicht. Denn bei näherer Betrachtung kann man beide Fälle nicht in ein einfaches Gut-gegen-Böse-Schema pressen.

Zudem hat Durow bisher nur Geld in Telegram investiert. Musk gab zumindest vor profitorientiert zu agieren, was im Fall von X ganz und gar nicht gelungen ist. Im Gegenteil: zahlreiche Werbepartner sprangen wegen den vielen Fake-News und der toxischen Atmosphäre ab.

Pawel Durow, 2013 in Berlin
Pawel Durow auf einem Diskussionspanel von TechCrunch. Bildquelle – (CC BY 2.0).

X reagierte nicht auf Löschaufforderungen wegen Fake-News

Ursächlich für die Sperre von X in Brasilien sind unzählige Falschmeldungen über einen angeblichen Wahlbetrug. Nach der Niederlage von Jair Bolsonaro konnten seine Mitarbeiter ohne jede Gegenwehr von X ihre Fehlinformationen verbreiten. Das führte im Januar sogar zu Aufständen und der Erstürmung des Präsidentenpalastes, des Kongresses und des Obersten Gerichtshofes. Bolsonaros Anhänger wollten das Ergebnis der Wahl revidieren. In dem Zusammenhang war aber nicht von Aufständen, sondern von einem gezielten Putschversuch die Rede. Klingt irgendwie nach dem abgewählten US-Präsidenten Donald Trump, wobei der dafür bis dato noch nicht in Haftung genommen wurde.

Der brasilianische Richter am Obersten Gerichtshof, Alexandre de Moraes, geht hingegen aggressiv gegen soziale Medien vor – darunter Telegram und seit kurzem auch X -, weil sie nichts gegen die grassierenden Fake News unternommen haben. Richter Moraes sieht es sogar so, dass die Netzwerke diese „antidemokratischen“ Falschinformationen selbst in Umlauf gebracht haben.

X kooperierte mit Indien und der Türkei, aber nicht mit Brasilien

Musk und X haben sich gewehrt und sich wiederholt öffentlich geweigert, der Aufforderung nachzukommen, Konten zu sperren und Inhalte zu löschen. Der letzte Strohhalm für Moraes kam, als X sich der Forderung widersetzte, einen rechtlichen Vertreter in Brasilien zu benennen, den die Regierung zur Verantwortung ziehen könnte. Dies ist eine Forderung, die traditionell mit autoritären Regierungen in Verbindung gebracht wird, die versuchen, Unternehmen einzuschüchtern.

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Musk stellt seine Haltung als prinzipienfest gegen politische Zensur dar. Skeptiker entgegnen, dass Musk mit seinem Vorgehen lediglich seine Verbündeten verteidigt. Ex-Präsident Bolsonaro pflegt enge Verbindungen zum Präsidentschaftskandidaten Donald Trump, den Musk bei seiner Wiederwahl unterstützt. Im Gegensatz dazu hat X Berichten zufolge ähnliche Forderungen aus Indien und der Türkei wie gewünscht umgesetzt.

Die Verhaftung des Telegram-CEO ist eine stumpfe Reaktion. Manche Experten sagen, dass einige der Anklagen gegen Durow zu weit gehen. Juristin Daphne Keller hofft in ihrem Kommentar, dass der Gerechtigkeit im Laufe des Prozesses auf die eine oder andere Weise Genüge getan wird. Nach ihrer Ansicht gibt es innerhalb der EU bereits einen sorgfältig durchdachten Rahmen für die Regulierung von Internetplattformen. Das Verhalten der Pariser Staatsanwaltschaft geht darüber natürlich weit hinaus. Im Gegensatz dazu, so Keller, „hat Brasilien einen Richter am Obersten Gerichtshof, der scheinbar abtrünnig geworden ist“. Alle VPN-Dienste* und X komplett in Brasilien zu sperren, erscheint so übertrieben wie realitätsfremd.

TikTok: Misstrauen der US-Regierung war ausschlaggebend

Das Vorgehen der Vereinigten Staaten gegen TikTok unterscheidet sich von Frankreichs Durow-Anklage und Brasiliens X-Verbot insofern, als es mehr durch das Misstrauen des Landes gegenüber China motiviert ist. Es geht nicht zwingend um konkrete Vorwürfe, die man TikTok macht. ByteDance war weit davon entfernt, sich über die amerikanischen Internetvorschriften hinwegzusetzen, zumal es kaum welche gibt.

Außerdem bot man der Biden-Regierung an, die Kontrolle über seine US-Aktivitäten zu übernehmen. Die US-Regierung lehnte das Angebot ab und unterzeichnete stattdessen ein parteiübergreifendes Gesetz, das die chinesische Muttergesellschaft von TikTok, ByteDance, dazu verpflichtet, die App zu verkaufen oder sie aus den amerikanischen App-Stores zu verbannen. Dieser Schritt erinnerte an ein ähnliches Verbot von TikTok und einer Reihe anderer chinesischer Apps durch Indien vor vier Jahren.

Kommentar: International setzt sich eine härtere Gangart durch

TikTok

In der Vergangenheit haben die Vereinigten Staaten die Strategie ausländischer Regierungen gegen Social-Media-Unternehmen als repressiv verurteilt. Unabhängig davon, ob das TikTok-Gesetz gerechtfertigt war, hat es sowohl Verbündete als auch Feinde ermutigt, eine härtere Haltung einzunehmen. Keller warnte vor der Vorstellung, dass es ein neues Phänomen sei, wenn Länder versuchen, Tech-Giganten in die Schranken zu weisen. Sie verwies auf einen Streit zwischen Yahoo und Frankreich im Jahr 2000. Sie merkte an, dass Europa ein Jahrzehnt der Peitschenhiebe gegen Tech-Konzerne hinter sich habe, während Brasilien 2016 sogar einen Facebook-Manager ins Gefängnis brachte.

Dennoch ist ein deutlicher Stimmungswandel erkennbar. Während unverbesserliche Tech-Führungskräfte wie Durow und Musk im Ausland in der Kritik stehen, scheinen sich Mainstream-Giganten wie Google und Meta „im Compliance-Modus“ zu befinden. So hat Meta-CEO Mark Zuckerberg am vergangenen Wochenende einen Brief an den Vorsitzenden des Justizausschusses des Repräsentantenhauses, Jim Jordan (R-Ohio), verfasst, der gegen das Unternehmen ermittelt.

Kommentar: Welche Folgen haben die Maßnahmen?

Durow und Musk könnten sich immer noch aus ihrer jeweiligen Klemme befreien. Das gilt auch für TikTok. Das Unternehmen fechtet das Gesetz über die Veräußerung oder das Verbot aktuell noch vor Gericht an. Wenn die Radikalisierung der Gesetzgeber, Staatsanwaltschaften oder Gerichte weiter Fahrt aufnimmt, muss man befürchten, dass dies negative Auswirkungen auf alle Online-Meinungsäußerungen haben wird. Das heißt, dass es die Meinungsfreiheit einschränken wird. Es ist klar, dass die Regierungen etwas gegen Geschäftsführer unternehmen müssen, wenn die glauben, sie können sich über alle rechtlichen Normen hinwegsetzen. Kommentar hin oder her. Doch wenn man seine Meinung nicht mehr frei äußern kann aus Angst vor möglichen Konsequenzen, ist das Ganze nicht mehr spaßig!

Frankreichs Anklagen gegen Durow enthalten einige, die darauf hindeuten, dass man damit die Verschlüsselung regelrecht kriminalisiert. In Brasilien kann man X nicht mehr ohne weiteres erreichen. Und die Netzwerke, die das ermöglichen könnten, hat man auch verboten. Wenn neben den VPN-Providern auch die Tore bei den Proxy-Anbietern geschlossen werden, ist Feierabend mit der Umgehung der Netzsperren. Ein VPN* als auch ein Proxy sind wichtige Instrumente für den Schutz der Online-Privatsphäre. Beide kommen nicht nur bei Telegram oder X zum Einsatz.

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CEOs müssen überdenken, welche Flughäfen sie noch nutzen

Zumindest aber werden hochfliegende Tech-Führungskräfte von nun an etwas sorgfältiger darüber nachdenken müssen, in welchen Ländern sie ihre Dienste anbieten wollen, ohne früher oder später eine DNS-Sperre zu provozieren. Noch wichtiger wird die Überlegung, welchen Boden sie betreten, wenn sie aus dem Flugzeug steigen. Aus dem kurzen Zwischenstopp für ein Liebesmahl mit der Freundin in Paris ist für Durow ein erzwungen dauerhafter Aufenthalt geworden.

Spannend zu sehen, wie sich das Ganze weiter entwickelt. Und gruselig zugleich in Anbetracht der drakonisch anmutenden Maßnahmen mancher Länder. Noch sind wir von einem komplett überwachten und kontrollierten Internet weit entfernt. Doch stellt sich die Frage, für wie lange noch? Wenn solche Maßnahmen jetzt schon ohne öffentlichen Aufschrei durchgehen, was kommt bitte als nächstes? Ein Kommentar von Lars Sobiraj.

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Lars Sobiraj

Über

Lars Sobiraj fing im Jahr 2000 an, als Quereinsteiger für verschiedene Computerzeitschriften tätig zu sein. 2006 kamen neben gulli.com noch zahlreiche andere Online-Magazine dazu. Er ist der Gründer von Tarnkappe.info. Außerdem brachte Ghandy, wie er sich in der Szene nennt, seit 2014 an verschiedenen Hochschulen und Fortbildungseinrichtungen den Teilnehmern bei, wie das Internet funktioniert.