Die wiederholte Frage von Tilo Jung, ob Jimmy Wales wirklich der alleinige Gründer der Wikipedia ist, führte zum vorzeitigen Aus des Talks.
Gespräche bei der politischen Interview- und Gesprächsreihe „Jung und Naiv” laufen normalerweise ruhig ab. Man kennt das Format für lange Antworten und Gäste, die Zeit bekommen, sich zu sammeln und über ihre Antworten nachzudenken. Doch Jimmy Wales brauchte nur wenige Sekunden, um das komplette Konzept zu unterlaufen. Ein kurzer Gruß, eine einfache Frage und schon war die Bühne leer. Man musste zweimal hinsehen, um zu begreifen, dass das Interview tatsächlich vorbei war.
Ist Jimmy Wales wirklich der alleinige Gründer der Wikipedia?
Tilo Jung wollte wissen, ob Wales nun Gründer oder Mitgründer von Wikipedia ist. Eine Frage, die in zwanzig Jahren unzählige Male gestellt wurde, ohne dass jemand den Raum verlassen hat. Wales hingegen reagierte sofort. Es gab einen kurzen, spürbaren Moment der Abwehr und einen abwertenden Kommentar, dann war das Gespräch beendet. Der entsprechende Clip verbreitet sich inzwischen überall im Netz. Beim Verlassen des Studios sagte Wales noch, das wäre dämlich, die Frage wäre ihm zu blöd. Zuvor sagte er zu Jung, nur weil ihm dieser die gleiche Frage viermal stellen würde, würde sie dadurch nicht besser werden.
Dass Larry Sanger seit vielen Jahren offiziell als Co-Gründer gilt, ist dokumentiert. Wales sieht das allerdings anders und machte dies an diesem Abend deutlicher als jede Pressemitteilung.
Ein Streit, der nie wirklich verschwunden ist
Wikipedia entstand im Jahr 2001 als gemeinsames Projekt. Wales stellte die Infrastruktur bereit und Sanger steuerte die redaktionelle Struktur bei. Das steht sogar bis heute bei der History of Wikipedia. Aus dieser Mischung entstand die bis heute prägende Idee. Doch wie viel Anteil jeder von ihnen daran hatte, wird seit langem unterschiedlich erzählt. Während die Plattform beide als Gründer nennt, beschreibt Wales die Geschichte lieber allein. Vor diesem Hintergrund wirkt sein Abbruch nicht impulsiv, sondern beinahe konsequent.
Die Neutralität wird immer herausfordernder
Wikipedia beruft sich seit seinem Beginn auf den neutralen Standpunkt. Dieses Prinzip ist zentral, doch in der Praxis zeigt sich, wie schwer es einzuhalten ist.
Mehrere Studien weisen darauf hin, dass Artikel zu politischen Themen ideologische Tendenzen enthalten. Eine Analyse der University of Technology Sydney beschreibt die Neutralität bei der Wikipedia als ein Konzept, das nie vollständig erreicht wird, sondern ständig neu verhandelt werden muss, aber mehr und mehr scheitert.
Auch die Wikimedia Foundation selbst hat bereits erkannt, dass der Umgang mit Neutralität schwieriger wird. In internen Berichten weist man darauf hin, dass man die Regeln präziser formulieren muss, da die Online-Plattform zunehmend unter Druck gerät.
In der Praxis streiten Administratoren und Editoren nicht nur um Formulierungen, sondern auch um Grundsatzfragen. Studien beschreiben die Bearbeitungskultur sogar als strategisches Ringen, bei dem einzelne Gruppen versuchen, Artikel langfristig zu prägen und zu vereinnahmen. Man hat einen guten Ruf zu verlieren. Schließlich geht es bei den Spendensammlungen, die in regelmäßigen Abständen stattfinden, um viel Geld!
Larry Sanger warnt seit Jahren vor genau diesem Trend. In seinen Aussagen beschreibt er Wikipedia offen als politisch verschoben und nicht mehr im Einklang mit dem ursprünglichen Anspruch.
Selbst Wales bemängelte zuletzt, dass einzelne Artikel, etwa zum Nahostkonflikt, nicht „neutral” genug seien.
Jimmy Wales – Der Moment, der mehr erzählt als die Szene selbst
Der Abbruch bei „Jung und Naiv” wirkt wie ein Spiegelbild dessen, was die Wikipedia seit Jahren begleitet. Der Kampf um Begriffe, Bedeutungen und Deutungen gehört dort zum Alltag. Wer schon einmal einen umkämpften Artikel geöffnet hat, weiß, wie schnell sich Diskussionen in zähe Grundsatzdebatten verwandeln können.
Vor diesem Hintergrund erhält die Szene natürlich eine zusätzliche Bedeutung. Nicht die Frage war das Problem, sondern alles, was damit zusammenhängt. Die eigene Rolle, die Geschichte des Projekts, die Wahrnehmung von außen und die Frage, wer sie kontrolliert. Dies war ein idealer Nährboden für einen Moment, der im falschen Augenblick schlicht zu viel wurde.
Warum der Vorfall bleibt
Wikipedia ist die zentrale Wissensquelle des Internets. Die Frage, wie offen man mit der eigenen Entstehungsgeschichte umgeht, ist daher alles andere als nebensächlich. Wer Neutralität fordert, sollte sie auch dann leben, wenn es für einen selbst unangenehm wird.
Ein einziges Wort reichte, um ein Interview zu beenden. Dies zeigt, wie sensibel das Thema bis heute ist und wie nah sich neutraler Anspruch und persönliche Empfindlichkeit stehen.
Für die Wikipedia ist dies nur ein kleiner Riss mehr an der Oberfläche. Und Für Jimmy Wales war es ein unglücklicher Moment. Für alle anderen ist es eine Szene, die erstaunlich viel über eine Plattform verrät, die täglich darum kämpft, so neutral wie möglich zu bleiben, und dabei immer wieder an ihren eigenen Widersprüchen sowie den Ideologien ihrer Mitarbeiter scheitert.



















