Die Wikipedia wurde am Anfang 2001 gegründet und ist jetzt eine der am häufigsten genutzten Websites im WWW. Wir haben den Vorhang gelüftet.
Am 15. Januar des Jahres 2011 veröffentlichte das IT-Portal gulli.com ein Interview mit Günter Schuler, seines Zeichens Autor und Fachjournalist. Zu diesem Zeitpunkt feierte die Online-Mitmach-Enzyklopädie „10 Jahre Wikipedia“.
Doch nicht nur Schuler war bei der deutschen Wikipedia unter falscher Flagge aktiv. Auch der Co-Autor dieses Interviews, der das Gespräch möglich machte, möchte namentlich nicht genannt werden. Er erstellt im Gegensatz zum Autor bis heute neue Beiträge für die deutsche Wikipedia. Er tut dies unter einem Pseudonym. Außer, wenn er nicht gerade mal wieder nach einem verbalen Schlagabtausch von einem der Admins gesperrt wird. Das kommt in dieser Community aber immer wieder in schöner Regelmäßigkeit vor.
10 Jahre Wikipedia: Ein Blick hinter die Kulissen im Jahr 2011
Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Online-Enzyklopädie sprach gulli mit Günter Schuler, Autor und Fachjournalist, der seit mehreren Jahren die Wikipedia und ihre internen Strukturen und Prozesse untersucht. Er arbeitete in der Community ein Jahr lang „under Cover“ und eröffnet uns in diesem Gespräch einen ausführlichen Blick hinter die feierlichen Kulissen.
Günter Schuler, der als Community-Mitglied „Roger Koslowski“ aktiv war, veröffentlichte im Jahr 2007 das Fachbuch „Wikpedia Inside“ beim Unrast-Verlag. Hier der Link zur Website des Verlages. Wir fanden damals schon im Vorgespräch dieses Interviews zum „Du“.
Günter, was ist dein beruflicher Hintergrund, und was genau machst du im Bereich der neuen Medien?
Günter Schuler: Ich arbeite als Autor und Fachjournalist, vorwiegend in den Bereichen Mediengestaltung, Bildbearbeitung und Typografie. Die Neuen Medien und die Frage, wie man mit ihnen umgeht, sind dort schon seit Jahren Thema. Das drückt sich nicht nur dadurch aus, dass mehr und mehr Inhalte multimedial publiziert werden. Auch die Medienerstellung selbst, der Kommunikation und die Art, wie Medien genutzt werden, hat sich durch das Internet fundamental verändert.
Ende 2007 wurde dein Buch „Wikipedia Inside“ vom Unrast-Verlag veröffentlicht. Wie bist du darauf gekommen, dich mit der Wikipedia und ihren Hintergründen zu beschäftigen? Link zum ehemaligen Blog des Buches.
Günter Schuler: Es gab da zwei Schienen. Zum einen spielt da sicher eine gewisse biografische Vorprägung mit rein. Also ein gewisses Faible für Enzyklopädien, oder für Pools, die bestimmtes Wissen vernetzen, greifbar und aufrufbar machen. Hinzu kam ein journalistisches, also ein berufliches Interesse. 2005 war Wikipedia als Thema ja noch neu. Jeder konnte sehen, dass da eine interessante Sache am Entstehen war. Als Autor und Journalist habe ich die Sache als Herausforderung betrachtet. Weil es noch nichts Richtiges gab, dachte ich mir: Warum nicht ein Buch über Wikipedia schreiben?
Zweigleisige Vorgehensweise bei der Recherche
Wie bist du dabei vorgegangen, was war der Grund?
Günter Schuler: Die Vorgehensweise war zweigleisig – wobei das Konzept das war, dass die eine Schiene die andere ergänzt. Schiene eins war, dass ich – nach einigen anonymen Edits, die wohl jeder Wikipedia-Autor zu Beginn macht – mir einen Account angelegt habe. Eben den „Roger Koslowski“, der auch im Buch erwähnt wird. Praktisch an dieser Form der Mitarbeit ist zum einen, dass man auf diese Weise Einblicke bekommt, die man als Außenstehender, als reiner Beobachter nur schwer erhält. Die andere Schiene war die klassisch journalistische – also Recherchearbeit auf unterschiedlichsten Ebenen, um dem im Titel angekündigten Insiderblick möglichst gerecht zu werden.
Warum war „Freies Wissen“ plötzlich so derart in Mode?
Hast du dich bislang auch mit anderen Themenbereichen und Gemeinschaften im Bereich Open Source auseinandergesetzt?
Günter Schuler: Open Source, Linux, die Funktionsweise von Foren und Community-Webseiten waren mir natürlich bekannt. Mehr als die Schiene „Freies Wissen“, die ich persönlich für ziemlich ideologiebesetzt halte, hat mich allerdings interessiert, wie Wikipedia in der Praxis funktioniert und wie sich dieses Portal real darstellt. Die Hauptfrage stellte sich somit so: Was macht genau die Anziehungskraft aus? Warum steigen zehntausende, möglicherweise hunderttausende von Leuten auf diese Sache ein und schreiben plötzlich im Internet Enzyklopädieartikel?
Der andere Aspekt – eben diese Ideologie von „Freiem Wissen“, die von einer Reihe Projektaktiver wie eine Monstranz vor sich hergetragen wird – ist mir natürlich auch aufgefallen. Ich will nicht verhehlen, dass ich dieser Ideologie recht skeptisch gegenüberstehe. Freie Inhalte haben wir im Internet doch schon ohne Ende. Für die Schreiberinnen und Schreiber dort stellt sich doch eine ganz andere Frage: Wie kann ich mir über die Arbeit, die ich dafür aufbringe, überhaupt noch ein Auskommen sichern? In der Summe halte ich die Diskussion über Copyleft und ähnliche Mechanismen, seine Rechte als Urheber freiwillig abzugeben, für eine fatale Sackgasse.
Zuende gedacht, führt sie dazu, dass kaum noch jemand was Größeres, was Aufwändigeres auf die Beine stellen wird. Dass die Inhalte, die dann frei sind, einfach auch fürchterlich flach sind, banal. Eine Erscheinung, die man im Web in seiner Breite bereits jetzt beobachten kann. Und die natürlich ihre negative Ausstrahlungskraft auf andere Medien hat – auf die Printpresse, oder aufs TV. Anders gesagt: Unter den gegenwärtigen Bedingungen sind freie Inhalte – vielleicht nicht nur, aber auch – Dumping-Inhalte. Inhalte, die Leute erarbeitet haben. Und für sie eben nichts kriegen.
Was ist „Kollaboratives Schreiben“?
Im Zusammenhang mit der Wikipedia fällt das Schlagwort „Kollaboratives Schreiben„. Was kann man sich darunter vorstellen?
Günter Schuler: „Kollaborativ“ ist auch einer der Ideologie-Begriffe, die ich bei den Wikipedianern so mag – „,mag“ in Anführungsstrichel. Ich halte es für einen Etikettenschwindel. Ein bekannter Wikipedianer hat während meiner Buchrecherche zugegeben, dass die Mehrzahl der Artikel mit einer gewissen Substanz von ein, zwei, höchstens drei Hauptautoren geschrieben wurden. Eine Aussage, die nach meiner Beobachtung vollkommen zutreffend ist. Im Grunde ist der Begriff „kollaborativ“ also nichts weiter als eine Mogelpackung.
Kollaborativ ist allenfalls die Art und Weise, wie die Weiterentwicklung dieses Wissenspools vonstatten geht. In der Praxis erinnert das dann oft an diese dauernden Volksabstimmungen in der Schweiz. Es wird ohne Ende abgestimmt und palavert. Wirkliche Richtungsentscheidungen, oder das bewußte Steuern von Prozessen sind auf diese Weise jedoch kaum auf den Weg zu bringen.

Das Miteinander innerhalb der Wikipedia: von konstruktiv bis toxisch!
Wie hast du selbst dieses Miteinander erlebt?
Günter Schuler: In vielen Fällen konstruktiv, in Einzelfällen auch chaotisch oder sogar destruktiv – bis hin zu Tendenzen zum organisierten Cyber-Mobbing. Ich selbst bin da ganz sicher nicht repräsentativ. Gut kamen in aller Regel formale Optimierungen und bestimmte Ergänzungen – also das, was in einem Verlag Lektoren, Korektoren und der Satz machen würden. Gut klappt das, wenn die einzelnen Leute – und natürlich auch der Autor – sich nicht so wichtig nehmen und alle die Chose als Teamwork betrachten. Also auch als eine Sache, die Freude macht, und wo man sich am Ende über ein gemeinsames Ergebnis freut.
Schlecht wirds dann, wenn die berühmten Streitfragen auftreten. Das kann zum Teil ganz banale Anlässe haben – wenn beispielsweise die Chemie zwischen zwei Autoren nicht stimmt, oder jemand sein Ding unter allen Umständen durchdrücken will. Charakteristisch für Wikipedia sind die Formaltricksereien, mit denen man versucht, diese inhaltlichen Konflikte in seinem Sinn zu entscheiden. Dann läuft es meist wie im echten Leben: Man sucht sich Bündnispartner, versucht, den anderen abzuwerten oder, im härteren Fall, aus dem Projekt herauszudrängen.
Wie ist der Umgang da untereinander?
Günter Schuler: Alles in allem würde ich sagen: Immer noch erstaunlich unterschiedlich. Diese sogenannten Edit Wars, und auch eine Reihe Auseinandersetzungen zwischen normalen Usern und Admins, die werden mittlerweile schon mit harten Bandagen geführt. Wobei ich sagen muß, dass diese Macht-Ungleichheit – insbesondere das Gefälle zwischen denen, die Wikipedia als einer Art Powerplay betreiben und dem Rest der User – bereits vor einigen Jahren zu beobachten war.
Insgesamt läßt sich in weiten Bereichen eine Verhärtung des Umgangsklimas beobachten, insbesondere dort, wo organisatorische Fragen diskutiert werden. Zum einen resultiert das, meiner Meinung nach, aus der zunehmenden Verregelung der deutschsprachigen Wikipedia. Ein zweiter wichtiger Punkt ist ebenfalls nicht zu vernachlässigen: Einige wenige Wikipedianer haben mittlerweile etwas zu verlieren. Ich denke da nicht nur an die diversen Projekte, die im Umfeld von Wikimedia Deutschland laufen, und die unter anderem natürlich auch einen gewissen Zwang zur Profilierung mit sich bringen. In der Breite allerdings dürfte der Gefühlshaushalt derjenigen, die in Wikipedia eine Adminrolle ausüben, prägender sein für das Projekt. Also das Gefühl, Macht auszuüben, das Gefühl, jemand zu sein. Und sei es auch nur im Internet.
Pro Artikel sind es oft nur zwei oder drei Autoren
Wie viele Menschen schreiben an einem Artikel aktiv mit?
Günter Schuler: Die Regel ist, wie gesagt: zwei, drei, maximal ein halbes Dutzend. Hinzu kommen eine Reihe weiterer nützlicher Geister – also die zahllosen Ausputzer, die für den endgültigen Zustand eines Artikels natürlich ebenfalls eminent wichtig sind. Bedingt zu trifft diese Beobachtung auch auf Artikel, die stark von Edit Wars befallen sind. Oft stehen sich hier zwei Fraktionen gegenüber – wobei eine oder beide Fraktion durchaus aus einer Person bestehen können.
Kritische Zeitgenossen müssen mit Gegenwind rechnen
Wie stark sind die Einflussmöglichkeiten auf den Inhalt eines Artikels? Wer kontrolliert das?
Günter Schuler: Im Normalfall sind sie schon groß, abhängig natürlich von der Reputation des Autors. Man kann allerdings auch unliebsame Überraschungen erleben. Ich selbst hatte aufgrund meiner adminkritischen Haltung – und vielleicht auch aufgrund einer klaren Ansage gegen rechte Kameraden auf meiner Userseite – einmal sehr starken Gegenwind bei einer Artikelkandidatur. Ich hätte da pro forma einlenken können, hatte allerdings gute Gründe, genau das nicht zu tun. Der Artikel selbst – es ging um Typografie, ein Fachgebiet, dass ich auch als Buch- und Fachzeitschriftenautor abdecke – wurde in der Folge in Einzelaspekten verschlechtert. Nicht richtig schlimm – allerdings eindeutige Folge davon, dass mir eine zufällige Zusammenrottung aus einigen Admins, Fun-Usern und Usern mit einem politisch rechten Background unbedingt die Harke zeigen wollte.
Die Mankos der Kontrolle in Wikipedia sind mit dieser kleinen Geschichte bereits beschrieben. Vom Konzept her sollten die Administratoren eigentlich eine moderierende Rolle einnehmen. In der Praxis passiert allerdings oft das Gegenteil. Konkret: Viele Admins intervenieren im Sinn ihrer Spezis, oder einfach im Sinn des Machterhalts der Administratoren als Gruppe. Andere polarisieren in Konflikten aus grundsätzlichen Erwägungen – geleitet also von Vorstellungen, was Wikipedia Ihrer Meinung nach sein sollte, oder welche User in Wikipedia mitmachen sollen dürfen und welche nicht. Das sind die Zufallsvariablen, mit denen jeder konfrontiert ist, der in Wikipedia editiert. Insgesamt ist zu sagen: Wenn du dich an den beschriebenen Mainstream anpasst, fährst du weitaus komfortabler als im andern Fall.
Wird ein Artikel, an dem viele Personen mitschreiben, automatisch gut?
Günter Schuler: Unterschiedlich. In den meisten Fällen sind es ja nicht viele, sondern eher wenige. Treten tatsächlich viele Autoren auf, so ist das für mich eher ein Indiz dafür, dass das Thema verwaist ist. Jeder gibt halt ein Schäufelchen dazu. In der Regel sehen diese Artikel entsprechend aus.
10 Jahre Wikipedia: „Die Diktatur der Zeitreichen über die Zeitarmen.“
Du beschreibst, dass es in der Wikipedia-Gemeinde einen Sozialstatus gibt. Kannst du das erläutern?
Günter Schuler: Zum einen gibt es die formalen Unterschiede. Also anonyme, nur unter ihrer IP auftretende User. Das sind in der Wikipedia-Community die Parias. Dann angemeldete User, noch weiter oben dann Admins sowie andere User mit formalen Sonderrechten. Der Sozialstatus, der in Wikipedia tatsächlich eminent wichtig ist, ergibt sich vor allem aus dem Faktor Präsenz. Also wie viele Edits man macht. Welche Qualität diese Edits haben, ist dabei oft nur zweitrangig. Hauptsache ist, man bringt sich irgendwie ein. Einerseits hat dies natürlich einen stark demokratisierenden Effekt. Andererseits bringt er genau das, was in der Wikipedia-Diskussion oft beklagt wird: die Diktatur der Zeitreichen über die Zeitarmen – also diejenigen, die dort nicht vierundzwanzig-sieben präsent sein können oder wollen.
Die Machtstruktur hat sich gewandelt
Du sprichst von einer vorgeblichen Avantgarde von 100, 200 Personen. Wie schafft man es, in diesem Kreis aufgenommen zu werden?
Günter Schuler: Zu beobachten ist, dass sich die Machtstruktur in den letzten drei, vier Jahren weiter ausdifferenziert hat. Zu den eben erwähnten User-Ebenen kommt mittlerweile eine weitere: diejenigen, die ihre persönliche oder auch berufliche Biografie stark mit dem Wikipedia-Gedanken verknüpft haben, und die in der Öffentlichkeit als Wikipedia-Aktive wahrgenommen werden. Hier wird mittlerweile mit harten Bandagen operiert. So läuft aktuell ein Abwahlantrag gegen den derzeitigen Vorstand von Wikimedia Deutschland e. V.. Oberflächlicher Anlaß ist die Gründung einer gemeinnützigen GmbH, mittels der man eingesammelte Spenden effizienter an die US-amerikanische Foundation, den eigentlichen Wikipedia-Betreiber, abführen möchte. Kritikpunkt ist hier vor allem, dass eine GmbH von den einfachen Vereinsmitgliedern natürlich noch schwerer zu kontrollieren ist als ein Vereinsvorstand, der immerhin Rechenschaftsberichte abgeben muß, sich Mitgliederversammlungen stellen muß, und so weiter.
Die 100, 200 User, die ich auch in meinem Buch erwähne, zählen vorwiegend zum Mittelbau. Aufgenommen in diesen informellen Kreis wird man im wesentlichen durch das erwähnte Wiki-Powerplay. Nicht zu vernachlässigen sind natürlich die informellen Kontakte – zum Beispiel auf den Stammtischen oder bei Veranstaltungen wie zum Beispiel der Wikimania. Das alles entwickelt in der Summe einen stark prägenden Einfluß. Ein Einfluß, der natürlich auch einen nicht unerheblichen Konformitätsdruck ausübt.
10 Jahre Wikipedia – Probleme mit dem Nachwuchs
Warum gewinnt die Wikipedia nur noch so wenige neue Mitarbeiter?
Günter Schuler: Im Prinzip aus den genannten Gründen. Der Umgangston wird zwar selbst intern als sehr ruppig eingeschätzt. Auch mit den überformalisierten Prozederes sind viele nicht sehr zufrieden. Aus welchen Gründen auch immer, ist die Community jedoch nicht in der Lage oder willens, diese Zustand zu ändern. Meines Erachtens ist eine substanzielle Richtungsveränderung gegenwärtig nur noch von ganz oben möglich – also seitens des Betreibers.
Da alle im System Wikipedia von der beschriebenen Situation profitieren – entweder ideell oder auch materiell –, ist eine Änderung jedoch eher unwahrscheinlich. Im Grunde war das Problem des nachlassenden Enthusiasmus eigentlich absehbar. Die Gründe sind vielschichtig. Ein wichtiger Grund: Viele Themenbereiche sind mittlerweile abgedeckt und die Einstiegshürde hängt deutlich höher als früher. Ein anderer Grund sind die Umgangsformen, insbesondere die Regelhuberei und andauernde Belehrerei – ein Fakt, der sich mittlerweile rumgesprochen hat. Anders gesprochen: Wikipedia ist bei weitem nicht mehr so „cool“ wie noch vor ein paar Jahren. Wenn Enzyklopädie so viel Spaß macht wie das Ausfüllen einer Steuererklärung, gibt es wenig Grund, dort mitzumachen.
Wichtige Entscheidungen werden von ganz oben festgelegt und dann durchgedrückt
Wikipedia ist ein Open-Source-Projekt. Es müssen sich da ja sicherlich viele Menschen über vieles untereinander abstimmen. Wie demokratisch ist Wikipedia?
Günter Schuler: Ich denke, im Grunde wenig. Sicher wird über alles und jedes abgestimmt. Die wirklich wichtigen Sachen werden allerdings ganz oben festgelegt. Und dann durchgedrückt. Ein gutes Beispiel hierfür ist das neue Interface, dass im Sommer 2010 eingeführt wurde. Sicher kann man sagen: Sieht knackiger aus als das Alte, und so weiter. Die relevante Frage ist jedoch, das über diesen Interface-Wechsel kein breiter Konsens hergestellt wurde. Sicher – wer Vector nicht mag, kann das alte Interface nutzen. Allerdings nur, wenn er sich anmeldet, also Wikipedia-User wird. Natürlich eine sehr elegante Methode, die Mitgliederstatistiken nach oben aufzufrisieren – mit Anmeldungen von Konsumenten, die einfach nur von Vector genervt sind.
Du sprichst in deinem Buch bezahlte PR, also Auftragsarbeiten für die Wikipedia, an. Kennst du konkrete Beispiele?
Günter Schuler: Zum einen die im Buch aufgeführten, die nunmehr bereits etwas zurückliegen. Dass Webseiten im Internet bezahlte Wikipedia-Artikel als Auftrags-Dienstleistung anbieten, steht allerdings auch in der Presse. Einige Fälle aus diesem Grauzonenbereich hatten ja für Schlagzeilen gesorgt und sind auch im Buch thematisiert. Andere Bereiche sind weniger offensichtlich; entsprechend ist offene Einflussnahme schwer nachzuweisen. Im Großen und Ganzen scheint diese Kontrolle zu funktionieren. Allerdings gab es auch Ausnahmen. Ich denke hier insbesondere an den Themenbereich Atomkraft, der unter anderem vom BUND als recht einseitig kritisiert wurde.
Wird Wissen durch die Wikipedia „frei“?
Günter Schuler: Nein. Es wird durch Wikipedia vielleicht leichter zugänglich. Das ist eine Errungenschaft, die durchaus anerkennenswert ist. Als Informationsquelle ist Wikipedia mittlerweile eminent wichtig. Aber „frei“ – der Begriff erscheint mir im Zusammenhang mit Wissen grundsätzlich deplatziert. Ich denke, Wikipedia ist einfach ein ganz praktischer Informationspool. Und natürlich, trotz aller Mängel, ein wertvoller, bisweilen sogar interessanter.
10 Jahre Wikipedia: Alles für lau ist einfach kein gutes Modell für unsere Gesellschaft
Ist das Modell „umsonst schreiben, umsonst lesen“ ein Zukunftsmodell für unsere Gesellschaft, oder Folge sozialer Probleme?
Günter Schuler: Ich würde klar sagen: eine Folge sozialer Probleme. Vom Standpunkt der Nützlichkeit, und vielleicht auch dem persönlich empfundenen Lebenssinn, ist es sicher sinnvoller, jemand schreibt Enzyklopädieartikel für Wikipedia als dass er den ganzen Tag vor der Glotze abhängt. Aber das löst nicht die Probleme der Arbeitslosigkeit. Es löst auch nicht die Probleme, dass viele Menschen kaum Geld oder zu wenig Geld haben. Das Modell „Umsonst schreiben“ verschärft diese Problematik eher noch. Im Journalismus etwa ist es mittlerweile Gang und Gäbe, dass gut ausgebildete Leute Weblogs betreiben. Oder aber für wenig Kohle Internetseiten mit komplett bescheuerten Nonsens-Inhalten füllen.
Finanziert wird dieses System großteils über Werbung. Und – das darf man auch nicht vergessen: durch den Verkauf von Kundendaten, dem neuen Gold der Werbeindustrie. Wikimedia mag tendenziell sicher eine Ausnahme sein. Aber Wikipedia und die ganzen anderen Wikis, in denen Wissen destilliert und zur Verfügung gestellt wird, lösen das Problem nicht. Im Grunde sind sie Lückenbüßer. Für ein Manko, dass eigentlich die Gesellschaft zu beheben hätte – die Frage der unterschiedlichen Chancen, Wissen zu verwerten. Und die Frage angemessener Bezahlung für Arbeit.
Was verwendest du, wenn du dich über ein Thema selbst informieren willst?
Günter Schuler: a) Google, b) Wikipedia, c) andere Quellen. Dass Wikipedia weit oben steht, spricht sicher für die Akzeptanz sowie die Informations-Seriosität, die Wikipedia mittlerweile erlangt hat. Allerdings muß man die bekannten Abstriche machen, also gegebenenfalls auch andere Quellen konsultieren. In der Regel allerdings ist einem Wikipedia-Artikel meist anzumerken, wie glaubhaft, wie vollständig oder wie neutral die enthaltenen Infos sind. Aber vielleicht bin ich mit dieser Aussage etwas zu arrogant. Wie auch immer, ich gebs hier Schwarz auf Weiß: Auch im Journalismus ist das Gucken auf das, was in Wikipedia steht, eine gängige Praxis.
Quellen checken: Letzlich kommt es auf den Inhalt an
Was denkst du über Seiten, die als Quelle „Wikipedia“ angeben?
Günter Schuler: Ich schau mir im Zweifelsfall die Quelle an. Also den entsprechenden Wikipedia-Artikel. Ansonsten ist das ganz neutral. Also weder etwas Ehrenrühriges noch etwas, was die Seite an sich aufwerten würde. Kommt eben auf den Inhalt an.
Die Veröffentlichung deines Buchs fiel in ein Jahr, wo es neben Erstaunen und Anerkennung auch erste Ernüchterungen und Kritiken an der Wikipedia gab.
Günter Schuler: Ja. Die sind mit Seigenthaler und ein paar anderen Geschichten richtig auf die Nase gefallen. Die Kritik konzentrierte sich allerdings auf diesen einen, einzigen Punkt: Wie hochwertig bittesehr ist die Information, die ich da für lau kriege? Bedient wurde also diese klassische Konsumentenschiene. Andere Kritikpunkte, die ich in meinem Buch thematisiert hatte, rangieren zum Teil immer noch unter ferner liefen: Beispielsweise die Macht der Wikipedia-Admins. Obwohl die Hausmeisterei, die bei Wikipedia praktiziert wird, im Internet längst Thema ist.
Dann die Frage der Rechten, die Wikipedia schon seit längerem als attraktive Plattform erkannt haben. Das hat sich zwar mittlerweile etwas reduziert, auch dank einiger Interventionen von außen. Wenn man insgesamt schaut, was die Medien so machen, ist die Chose doch vergleichsweise oberflächlich. Die Grundstory ist seit Jahren dieselbe: der idealistische Business-Mann hier, also Jimmy Wales, der das Ganze gegründet hat, und die aufopferungswilligen Freiwilligen, die im Internet Enzyklopädieartikel anlegen. Bisweiligen sorgt das für peinliche Stilblüten – wenn bei SPIEGEL ONLINE etwa ein vierzehnjähriger Militärautor als Fachmann für die NS-Zeit beschrieben wird.

Die Reaktionen auf das Buch waren sehr unterschiedlich
Welche Resonanz hattest du auf dein Buch?
Günter Schuler: Solche und solche. Bei vielen Funktionsträgern, vor allem unter den klassischen Admins, kam das Buch nicht so gut an. Zum Teil auch deswegen, weil ich mich bewusst dafür entschieden hatte, konkret Roß und Reiter zu benennen. Der Grund liegt eigentlich auf der Hand. Diese Leute publizieren. Sogar auf einer recht großen, bekannten Plattform. Entsprechend haben sie sich, finde ich, auch ihrerseits einer öffentlichen Kritik zu stellen. Die Reaktionen waren zum Teil schon recht unfreundlich; zum Teil wird mir meine Veröffentlichung wohl bis heute persönlich nachgetragen.
Aber diese Art der Reaktion, die Unfähigkeit und zum Teil auch Unwilligkeit, eine Auseinandersetzung inhaltlich zu führen und zu den eigenen Positionen zu stehen, ist ein weiterführendes Problem, dass wir in diesem Interview nicht klären können. Daneben gab es eine Reihe positiver Reaktionen. Für das Buch spricht – neben der Medienresonanz, die es gab – letzten Endes die Tatsache, dass es noch immer, vier Jahre nach seinem Erscheinen, in der Diskussion über Wikipedia und die Wikipedia-Community auftaucht. Wie es scheint, habe ich die wesentlichen Punkte wohl recht gut getroffen.
Der Nachwuchs bleibt aus. Tödlich für ein Projekt, was vom Mitmachen lebt.
Was hat sich seitdem in der Wikipedia verändert?
Günter Schuler: Anders als vor dem Erscheinen des Buches steht die Wikipedia vor ihrer ersten wirklichen Strukturkrise. Der Nachwuchs bleibt aus, viele langjährige Mitarbeiter sind substanziell unzufrieden, resigniert oder reagieren auf Probleme einfach zynisch. Für ein Projekt, das letzten Endes vom Mitmachen lebt, ist das natürlich tödlich. Das wirkliche Problem könnte man wie folgt beschreiben: Wikipedia hat sich viel zu wenig verändert. Wie oder ob der Betreiber beziehungsweise die Community es hinbekommen, das zu ändern, ist natürlich eine spannende Frage. Momentan neige ich allerdings eher zu einer skeptischen Sichtweise. Langfristig verwaiste Artikel, möglicherweise eine Reduktion des Artikelbestands. Oder eine Implosion, an deren Ende mehrere Forks oder Spezial-Wikis entstehen können.
Was sollte man Menschen raten, die Wikipedia nutzen?
Günter Schuler: Das Übliche. Tu es. Aber nutz die Informationen kritisch. Konsultiere im Zweifelsfall eine zusätzliche Quelle. Entweder eine, die in den Weblinks unter dem Wikipedia-Artikel verlinkt ist. Oder, noch besser: ein Buch oder ein Magazin. Nicht umsonst finden sich die besten, am sorgfältigsten aufbereiteten Informationen nach wie vor dort, wo auch dem ökonomischen Faktor der Wissenserstellung Rechnung getragen wird. Also dort, wo man kontinuierlich, solide und professionell arbeitet.
Jeder sollte seine eigenen Erfahrungen machen
Was sollte man den Menschen raten, die in der Wikipedia mitschreiben, oder demnächst mitmachen wollen?
Günter Schuler: Versuch es. In der Tat, ich habe noch vor kurzem diesen Rat einem Freund gegeben, der sich mit der Absicht trägt, bei Wikipedia Artikel zu schreiben. Was soll man tun? Du kannst die Leute nicht davon abhalten, ihre eigenen Erfahrungen zu machen. Aber man sollte ein offenes Gespür haben für die Erfahrungen, die man dort potenziell machen kann. Sicher, darunter sind sicherlich auch eine Menge Guter. Aber man sollte sich nicht selbst verlieren. Und am Ende einer jener Wikifanten zu werden, die die Welt außerhalb ihrer Enzyklopädie nur noch aus Wikipedia-Artikeln kennen.
Günter, vielen Dank für das Gespräch!
Anmerkung: Das Portal gulli.com nahm der frühere Betreiber in der ursprünglichen Version im Mai 2018 vom Netz. Da das Interview im Original nicht mehr verfügbar ist, haben wir uns spontan dazu entschlossen, es einfach erneut zu veröffentlichen.