Tim Berners-Lee kämpft für ein freies und offenes World Wide Web gegen Monopole, Datenmissbrauch und KI-Slop.
Tim Berners-Lee kämpft seit Jahrzehnten für ein freies und offenes Netz. 1989 entwickelte er am CERN die Idee des World Wide Web und programmierte die Grundlagen wie HTML, HTTP und URLs. 1993 schließlich überzeugte er das Forschungszentrum, die Grundlagen des WWW in die Gemeinfreiheit zu geben. Keine Patente, keine Bezahlschranken, nur offene Standards für alle. Heute stellt er die Frage: „Ist das Web noch frei?“ Seine Antwort: „Nicht komplett.“ Plattformen sammeln Daten, Nutzer werden zum Produkt und das einst offene Web droht im Würgegriff der Monopole unterzugehen.
Ursprünglich war das Web als universelle Plattform gedacht – offen, dezentral und für alle zugänglich. Doch längst dominieren Konzerne wie Google, Meta und Amazon. Sie kontrollieren Datenströme, bauen Walled Gardens und verwandeln Nutzer in Ware. Berners-Lee sieht darin den Verrat an seiner Vision.
Solid und Inrupt: Daten zurück in Nutzerhand
Mit Solid, einem Protokoll, das persönliche Daten in sogenannten Pods speichert, präsentiert Berners-Lee seinen Gegenentwurf. Solid steht für „Social Linked Data“, Pods für „Personal Online Data Stores“. Apps müssen bei Anwendung erst um Zugriff bitten, der Nutzer entscheidet. Mit Inrupt gründete Berners-Lee 2017 ein Unternehmen, das diese Technik in die Welt tragen soll, doch der große Durchbruch blieb bisher aus. Berners-Lee umreißt seine Vision:
„Wir können eine neue Welt schaffen, in der wir die Funktionalität von Dingen wie Facebook und Instagram erhalten. Und wir müssen nicht um Erlaubnis fragen.“
Berners-Lees jüngstes Projekt heißt Charlie, ein auf Solid basierender Prototyp für einen persönlichen KI-Agenten. Dieser greift auf die Daten der Nutzer im Pod zu und arbeitet in ihrem Interesse. Das heißt, es erfolgt keine Datenspende mehr an Big Tech. Die User behalten die lokale Kontrolle. Allerdings ist Charlie aktuell noch nicht als verbreitetes Produkt für Endverbraucher verfügbar, zumindest nicht in dem Umfang, wie man es von etablierten KI-Diensten kennt. Die bisherigen Versionen sind Demos, Experimente und technische Erprobungen, keineswegs finalisierte Consumer-Versionen.
Schon 1994 gründete Berners-Lee das World Wide Web Consortium (W3C), um offene Standards wie HTML oder HTTP zu sichern. Bis heute sind diese Protokolle die Basis des Webs. Selbst die Tech-Giganten halten sich daran. Für Berners-Lee gilt, nur Standards wie HTML, HTTP oder URLs garantieren Interoperabilität und verhindern digitale Monopolherrschaft. Das heißt, nur wenn sich alle an offene Webstandards halten, bleibt das Netz frei, kompatibel und vielfältig. Andernfalls setzen sich proprietäre Systeme durch. Dann dominieren wenige große Plattformen, die ihre Macht ausnutzen.

Zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Solid im Praxistest
Die Idee von Solid ist zwar bestechend, doch der Alltag zeigt, dass viele Nutzer zwar Kontrolle über ihre Daten wollen, jedoch ohne zusätzlichen Aufwand. Projekte wie die BBC-Box oder die Pod-Initiative in Flandern verliefen im Sand. Berners-Lee bleibt dennoch überzeugt, dass es nur das eine Killer-Feature braucht, um Solid durch die Decke gehen zu lassen. Das könnte z. B. eine App sein, die alltägliche Probleme löst, vielleicht ein Datenspeicher, der komfortabel Gesundheitsdaten, Social-Media-Inhalte oder persönliche Dokumente vereint und bessere Services liefert als Facebook, Google oder Apple. Sobald es dieses „Killer-Feature“ gibt, könnte Solid massentauglich werden und aus der Nische heraustreten.
Publisher, KI-Slop und das Ende der Fairness im Netz
Tim Berners-Lee warnt in mehreren aktuellen Beiträgen eindringlich vor der Entwicklung des Netzes. Im Guardian erklärt er, dass Nutzer auf Plattformen längst nicht mehr die Kunden sind, sondern selbst zum Produkt geworden sind. Ihre Daten werden gesammelt, weiterverkauft und dabei oft für manipulative oder sogar schädliche Inhalte missbraucht. Für ihn ist das ein fundamentaler Bruch mit seiner ursprünglichen Vision eines Webs, das eigentlich ein Werkzeug für Kreativität und Zusammenarbeit sein sollte und kein Geschäftsmodell auf Basis von Datenhandel.
Im New Yorker wird er noch deutlicher. Er spricht von „extraktiven Monopolen“, die Menschen in geschlossene Systeme locken, die Ausgänge versperren und Abhängigkeiten schaffen, um Daten und Inhalte maximal auszuschöpfen. Kritisch sieht er zudem die neuen KI-basierten „Answer Engines“ wie Google Gemini oder ChatGPT, die Inhalte massenhaft absaugen, ohne die Urheber mit Traffic oder Einnahmen zu beteiligen. Für Berners-Lee bedroht dieses Modell nicht nur die Offenheit des Webs, sondern auch die Grundlagen von Journalismus, Wissenschaft und unabhängigen Stimmen. Ohne faire Vergütung für Inhalte kippt das System und das Netz droht endgültig zur bloßen Recyclingmaschine von KI-Slop zu degenerieren.
Für den inzwischen 70-jährigen Informatiker kann das Web nur dann bestehen, wenn es für alle funktioniert. Sobald Konzerne Inhalte kontrollieren und monetarisieren, ohne die eigentlichen Produzenten daran zu beteiligen, kippt die Balance und die Offenheit des Netzes selbst gerät in Gefahr.
Berners-Lee: Ohne Regulierung droht der Kontrollverlust
Tim Berners-Lee sieht die Geschichte des Netzes als Warnung. Zwischen Web 1.0 und dem Aufstieg von Social Media im Web 2.0 sei die Menschheit „falsch abgebogen“. User sind abhängig von Plattform-Monopolen, die Daten sammeln und vermarkten. Genau diesen Fehler dürfe man bei Künstlicher Intelligenz nicht wiederholen.
Statt in einen endlosen Wettlauf mit Big Tech zu geraten, fordert er eine schnelle und verbindliche Regulierung. KI müsse von Anfang an durch Gesetze, Regeln und ethische Standards eingehegt werden. Gemäß Guardian fordert Berners-Lee darum ein CERN für KI, eine internationale, gemeinnützige Instanz, die Standards und Regeln vorgibt. Er argumentiert, dass die Politik bei Social Media ein Jahrzehnt verschlafen hat, während die Plattformen Fakten geschaffen haben. Dieses Versagen dürfe sich bei KI keinesfalls wiederholen.
Tim Berners-Lee kämpft für die Rückeroberung des offenen Webs
Mit Solid, Inrupt und Charlie legt er den Bauplan für eine neue digitale Architektur vor, in der Datenhoheit und Nutzerkontrolle im Mittelpunkt stehen. Er fordert die Politik auf, diesen Weg mit klarer Regulierung abzusichern. Gegenwärtig steuere das Netz nach seiner Einschätzung in eine „Abwärtsspirale auf eine dysfunktionale Zukunft“. Doch Berners-Lee bleibt überzeugt: „Wir können das Web zurückerobern […] Es ist noch nicht zu spät.“