Digitale Blockaden: DRM und Anti-Umgehungsgesetze bauen künstliche Mauern zwischen Nutzer und Gerät.
Digitale Blockaden: DRM und Anti-Umgehungsgesetze bauen künstliche Mauern zwischen Nutzer und Gerät.
Bildquelle: ChatGPT

Jailbreaking legalisieren: Doctorows Plan, die „Enshittification“ zu stoppen

Cory Doctorow fordert auf dem Web Summit 2025: Jailbreaking legalisieren, Modding und Reverse Engineering erlauben und Big Tech entmachten.

Cory Doctorow hat genug von globalen Anti-Umgehungsgesetzen, die das Internet zur Herrschaftszone der Tech-Giganten gemacht haben. Auf dem Web Summit 2025, der jährlichen Technologiekonferenz, präsentierte der Aktivist einen radikalen Gegenentwurf. Er will Jailbreaking legalisieren, Modding schützen und Reverse Engineering aus der Grauzone holen. Europa, sagt er, müsse jetzt die digitalen Ketten sprengen oder die Enshittification frisst den Rest.

Es ist selten, dass jemand es schafft, ein neues Wort in den kollektiven Tech-Wortschatz zu verankern. Cory Doctorow hat es mit „Enshittification“ geschafft, jenem Prozess, bei dem Plattformen zuerst die Nutzer ausnehmen, dann die Anbieter und schließlich sich selbst zerstören. Auf dem Web Summit 2025 legte er nach. Nicht die Technik habe das Netz ruiniert, sondern die Gesetzgebung, die sie schützt. Darum fordert er, Jailbreaking konsequent zu legalisieren.

Jailbreaking legalisieren: Doctorow strebt die Reparatur des Internets an

Wie PCMag berichtete, erinnert Doctorow daran, dass das Internet einst ein Ort der digitalen Selbsthilfe war. Er führte aus:

„Früher hatten wir die Philosophie: Wenn etwas im Internet nicht funktionierte, schrieb man ein Plugin, entwickelte eine Modifikation, programmierte einen alternativen Client, scrapte es, analysierte es per Reverse Engineering und verbesserte es.
Aber das hat sich geändert. Als wir weltweit Gesetze zum Schutz des geistigen Eigentums erließen, sogenannte Anti-Umgehungsgesetze, die diese Art von Reverse Engineering und Reparatur unter Strafe stellten, schufen wir ein politisches Umfeld, das diese Fehlentwicklungen überhaupt erst begünstigte.“

Gemeint sind Anti-Umgehungsgesetze wie der DMCA, der Computer Fraud and Abuse Act oder deren internationale Ableger. Laut Doctorow erzeugen sie ein Klima, in dem Nutzer zu passiven Konsumenten degradiert werden und Konzerne nahezu unantastbar sind.

Offenes Web vs. App-Stores: Warum Modding heute als Risiko gilt

Doctorow beschreibt einen grundlegenden Unterschied zwischen den beiden digitalen Welten. Das Web ist von Natur aus offen, modifizierbar und erweiterbar. Jeder Browser lässt sich mit Plugins, Scripts oder Extensions anpassen, Inhalte können gefiltert, verändert oder erweitert werden. Wer will, kann sogar ganze Webseiten per Nutzer-Stylesheets oder Alternativ-Clients umgestalten.

Apps hingegen bilden ein völlig anderes Ökosystem. Sie sind abgeschottet hinter Signaturen, Gatekeepern und App-Store-Regeln. Sie funktionieren nur in der Form, wie die Hersteller es erlauben. Jede Veränderung, jeder Eingriff, jede Erweiterung ist technisch blockiert oder rechtlich riskant. Während das Web zur eigenen Gestaltung einlädt, bleibt das App-Ökosystem eine kontrollierte Umgebung, in der Nutzer kaum Freiheiten besitzen. „Niemand hat jemals einen Werbeblocker für eine App installiert“, so Doctorow.

Unterstützung erhielt er indirekt von Web-Erfinder Tim Berners-Lee. Der erinnerte das Publikum daran, dass gerade diese Modifizierbarkeit einst die Stärke des Web war und heute zunehmend verloren geht. Berners-Lee formulierte:

„Wir müssen diese Macht zurückgewinnen.“

Gemeint ist die Macht, das eigene digitale Umfeld zu kontrollieren wie Browser anzupassen, Funktionen zu verändern, Inhalte zu filtern, Software zu modifizieren. kurz, selbst zu entscheiden, wie das Netz für einen funktioniert, statt es den Plattformen zu überlassen.

Jailbreaking legalisieren: Europa am Scheideweg – Der richtige Moment ist jetzt

Die USA haben ihre Handelspartner über Jahre dazu gedrängt, Anti-Umgehungsgesetze zu übernehmen, oft unter Androhung von Strafzöllen. Seit der Trump-Ära kommen diese Zölle jedoch ohnehin. Doctorow betonte:

„Sobald die Zölle eingeführt sind, gibt es keinen Grund mehr, das Gesetz beizubehalten.“

Für Doctorow liegt darin eine historische Chance. Europa könne die Gesetze abschaffen, digitale Souveränität zurückgewinnen und sogar eine eigene Interoperabilitätsindustrie aufbauen.

Auch seinem Heimatland Kanada rät Doctorow, nicht harmlose Farmer mit Zöllen zu bestrafen. Stattdessen solle man die Profiteure des Systems ins Visier nehmen, jene Lobbyisten, die die Vormachtstellung der Tech-Monopole zementieren:

„Wenn wir Zölle auf Sojabohnen erheben, bestrafen wir nur einen armen Bauern in einem Bundesstaat, dessen Name mit einem Vokal beginnt und endet und der Kanada nie etwas angetan hat. Wenn wir die gewinnbringendsten Geschäftsbereiche der amerikanischen Technologiekonzerne angreifen, treffen wir genau diejenigen, die jeweils eine Million Dollar dafür ausgegeben haben, hinter Trump auf dem Podium zu sitzen.“

Der Fall ICC: Wie gefährlich Abhängigkeit werden kann

Doctorow erinnert an den Fall des ICC-Chefanklägers Karim Khan, der nach US-Sanktionen plötzlich den Zugriff auf sein persönliches Microsoft-Konto verlor. Der Internationale Strafgerichtshof selbst war nicht vollständig betroffen, doch schon dieser Vorfall zeigte, wie abhängig europäische Institutionen von US-Diensten sind.

Microsoft erklärte später, man habe nicht den gesamten ICC abgekoppelt und kündigte an, sich künftig juristisch gegen staatliche Anordnungen zu wehren, die europäische Institutionen erneut treffen würden. Der geopolitische Schaden war allerdings längst entstanden.

Jailbreaking legalisieren: Doctorows Plan, die „Enshittification“ zu stoppen
Jailbreaking legalisieren: Doctorows Plan, die „Enshittification“ zu stoppen

Reverse Engineering als Schutz davor, belogen zu werden

Doctorow kritisiert, dass Anti-Umgehungsgesetze ausgerechnet diejenigen schützen, die am meisten zu verbergen haben. Sein Lieblingsbeispiel: Volkswagen. Der Dieselgate-Skandal wäre nie so groß geworden, wenn unabhängiges Reverse Engineering legal und einfach möglich gewesen wäre. Er weist darauf hin:

„Wenn es für irgendjemanden legal wäre, ein Informatiksystem von Volkswagen zurückzuentwickeln, hätten wir von Dieselgate am Tag der Auslieferung gewusst.“

Für Doctorow ist Reverse Engineering kein Nerd-Hobby, sondern ein Werkzeug demokratischer Kontrolle.

Tinkering und Reverse Engineering: Die Freiheit und das Werkzeug

„Tinkering“, also das kreative Tüfteln und Modifizieren von Hard- und Software bezeichnet all jene Eingriffe, bei denen Nutzer Technik reparieren, verbessern oder an ihre eigenen Bedürfnisse anpassen. Der Begriff umfasst vom simplen Mod bis hin zum Reverse Engineering praktisch alles, was Nutzern erlaubt, digitale Systeme nicht nur zu konsumieren, sondern aktiv zu gestalten.

Doctorow benutzt den Begriff bewusst breit. Gemeint ist die gesamte Kultur des digitalen Bastelns wie Geräte öffnen, Mods bauen, alternative Clients schreiben, APIs nachbauen, Fehler beheben oder Funktionen erweitern. Tinkering ist die kreative Freiheit.

Reverse Engineering dagegen ist die präzise technische Analyse dahinter wie das Sezieren von Systemen, das Dokumentieren von Abläufen, das Herstellen von Kompatibilität und das Entlarven von Manipulationen.

Für Doctorow sind beide Praktiken untrennbar. Tinkering schafft Möglichkeiten, Reverse Engineering schafft Verständnis. Beides zusammen bildet eine digitale Selbstbestimmung, die Anti-Umgehungsgesetze fast vollständig ausgebremst haben. Deshalb fordert Doctorow, diese Praktiken endlich wieder zu legalisieren und zu schützen, genau jene Kultur also, die das Internet einst groß gemacht hat.

KI-Blase & 700 Milliarden CapEx: Eine Industrie auf Crashkurs

Doctorow sieht auch die KI-Branche auf dem Weg in die Enshittification. 700 Milliarden Dollar Investitionskosten stehen nur 60 Milliarden Jahresumsatz gegenüber. Für ihn ein klassisches Crash-Szenario.

Nach dem Crash, sagt er, beginne dann die eigentlich spannende Phase. Wenn die aufgeblähte KI-Blase platzt, werden GPUs plötzlich zu Schleuderpreisen auf den Markt gespült, weil Konzerne ihre überdimensionierten Rechenzentren abbauen müssen. Gleichzeitig stehen hochqualifizierte Fachkräfte, die bislang im KI-Hype feststeckten, wieder für echte Innovationen zur Verfügung.

Das Ergebnis wäre ein Ökosystem, in dem freie, unabhängige Projekte entstehen können ohne die Dominanz der großen Player und ohne künstliche Verknappung von Rechenressourcen. Ein Neustart, den Doctorow nicht als Katastrophe sieht, sondern als Chance für eine technologische Renaissance, die wieder von unten wächst und nicht von Konzernen diktiert wird.

„Move fast and break kings“ – Doctorows Pointe

Zum Ende hin liefert Doctorow den markantesten Satz des gesamten Talks. Er spielt bewusst auf den alten Facebook-Slogan „Move fast and break things“ an, der längst als Leitsatz der Silicon-Valley-Mentalität gilt und dreht ihn um. Doctorow formuliert:

„Schnelles Handeln, das Dinge kaputt macht, ist verpönt. Aber es kommt wirklich darauf an, wessen Dinge man kaputt macht. Ich bin absolut dafür, schnell zu agieren und Könige zu brechen.“

Jailbreaking legalisieren: Ein Manifest für digitale Selbstbestimmung

Cory Doctorow liefert keine Analyse, sondern ein Manifest. Anti-Umgehungsgesetze verhindern Transparenz, kriminalisieren Nutzer und schützen Monopole. Wer die Enshittification stoppen will, muss digitale Selbsthilfe wie Jailbreaking, Modding und Reverse Engineering wieder legal ermöglichen, vom Tinkering bis zur technischen Analyse.

Über

Antonia ist bereits seit Januar 2016 Autorin bei der Tarnkappe. Eingestiegen ist sie zunächst mit Buch-Rezensionen. Inzwischen schreibt sie bevorzugt über juristische Themen, wie P2P-Fälle, sie greift aber auch andere Netzthemen, wie Cybercrime, auf. Ihre Interessen beziehen sich hauptsächlich auf Literatur.