Eine Studie belegt einen positiven Einfluss der Softwarepiraterie auf Armutsraten in Schwellenländern. Allerdings ist das Ergebnis streitbar.
Schwächt Softwarepiraterie die Armut ab? Diese Frage stellten sich zwei türkische Forscher, die ihre Ergebnisse vor kurzem im Balkan Journal of Social Sciences veröffentlicht haben. In ihrer siebenseitigen Studie stellen sie einen statistischen Zusammenhang zwischen Softwarepiraterie und Armut her. Ihr Ergebnis: Je mehr geseeded und gesaugt wird, desto weniger Armut. Aber wie stichhaltig ist sie?
Die „Piratisierungsrate“ definierten die Autoren als den gesamten finanziellen Verlust, der Unternehmen durch Softwarepiraterie entsteht. Sie untersuchten den Einfluss dieser Rate auf sechs Kennzahlen der Armut, wie die Arbeitslosenquote oder den Anteil der Bevölkerung, der unter einer (nicht näher definierten) Armutsgrenze liegt. Die Datenlage umfasst die Jahre 2003 bis 2017.
Fragwürdige Quellen und methodische Fehler der Studie
Schon die Definition der „Piratisierungsrate“ sorgt für Stirnrunzeln, denn als Quelle gaben die Autoren Zahlen der International Data Corporation (ICD) an. Einigen hier ist sicher der Name ein Begriff, denn die IDC ist Teil der Business Software Alliance. Diese Lobbyorganisation großer Softwarefirmen wie Apple und Microsoft zeichnet sich durch ihre Jagd auf Freunde des gepflegten Crackings aus. Und ebendiese Unternehmen dürften ein Interesse daran haben, ihre Verluste übertrieben darzustellen, um Gewinne durch die Abmahnindustrie zu maximieren.
Schließlich können sie über die vermeintliche Schadenssumme Druck auf die Politik aufbauen, neue Gesetze und mehr Überwachung durchzuboxen. Der Auftrag der ICD ist, diese Einflussnahme mit Daten wissenschaftlich zu unterfüttern. Aber: Ihre Daten wurden bereits vor zehn Jahren als unwissenschaftlich entlarvt.
Damit erweist die Studie zur Softwarepiraterie und Armut der Szene eher einen Bärendienst, so schön ihre These auch klingen mag. Aber sie möchte sowieso nichts aussagen, weder in die eine noch in die andere Richtung. Sie stellt nur eine These auf und untermauert sie mit höchst fragwürdigen Schätzungen. Eigentlich ist das schon alles und der Artikel könnte zu Ende sein.
Aber es lohnt sich, genauer hinzuschauen. Zunächst fällt auf: Die Autoren haben weitere grobe Schnitzer gemacht. Sie lassen sogar die Frage offen, welche Länder sie überhaupt unter die Lupe genommen haben. Von „Schwellenländern und Ländern Lateinamerikas“ ist die Rede. Die genannte Anzahl der lateinamerikanischen Staaten lässt vermuten, dass damit der südamerikanische Kontinent an sich (also ohne Mittelamerika und Karibik) gemeint ist – ohne Gewähr. Schauen wir uns diesen Kontinent einmal genauer an.
Realitätscheck
Gerade Lateinamerika zeichnet sich durch enorme soziale Ungleichheit aus, was in der Studie trotz des Themas Armut unberücksichtigt ist: Es lebt eben nicht jeder Südamerikaner mit fünf anderen Familienmitgliedern in einer Blechhütte der Favelas, baut Koka an oder schürft Gold im Amazonas – viele aber schon. Es wohnt auch nicht jeder Südamerikaner in einer gated community mit Villa, Pool und Hauspersonal – viele aber schon. Und es gibt Millionen zwischen diesen Extremen. Manche krebsen trotz dreier Jobs an der Armutsgrenze herum. Dass Lohnarbeit Wohlstand nicht garantiert, scheinen die Autoren auch nicht begriffen zu haben. Andere haben genügend Rücklagen, um auch schlechten Zeiten mehr oder weniger gelassen entgegenzugehen.
Wie kann eine gute Studie zu Softwarepiraterie und Armut aussehen?
Wenn man einen Zusammenhang zwischen Softwarepiraterie und Armut (oder lieber Wohlstand?) herstellen möchte, wäre doch eher folgende Fragen interessant: Welches Milieu würde eher Software cracken oder saugen? Unterscheidet sich ihr Mediumkonsum überhaupt? In welcher Gruppe ist Softwarepiraterie aus monetärem Interesse besonders weit verbreitet? Wird gecrackte Software eher gehandelt oder ist sie eher Arbeits- und Produktionsmittel? Eine Untersuchung bestimmter Milieus hinsichtlich Softwarenutzung und Bildungstand wäre sinnvoller, statt sie alle über einen Kamm zu scheren.
Welche Rolle spielt die Zensur?
Geld ist für jeden eine begrenzte Ressource – selbst für die Reichsten. Deren liebste Straftat – Steuerhinterziehung – begehen sie ja auch nicht, weil sie sonst am Hungertuch nagen würden. Es gibt mehr Motivationen für Softwarepiraterie als Armut, auch wenn die Studie das suggeriert. Verständlich, dass Wissenschaftler in Erdogans Türkei das Thema Zensur lieber umschiffen, wenn sie ihren Job behalten wollen. Da viele Staaten Südamerikas in Sachen Pressefreiheit und Zensur weltweit bestenfalls im oberen Mittelfeld liegen, ist sie aber ein Faktor, der eine signifikante Rolle bei der Verbreitung von Softwarepiraterie spielen könnte.
Schauen wir uns das krasseste Negativbeispiel Südamerikas an – Venezuela. Damit wird klar, was Zensur dort bedeutet. Nicht nur Netzsperren und Vorratsdatenspeicherung, sondern auch: Sendern die Lizenzen entziehen, Kritiker einschüchtern oder verschwinden lassen und die Darstellung der bescheidenen Realität durch weichgespülte Telenovelas ersetzen.
Viele Staaten südlich des Rio Grande waren mal Diktaturen und wissen, wie man Massen durch Medien manipuliert. Das Bedürfnis nach Softwarepiraterie ist hoch – um Pressefreiheit zu genießen ebenso wie um eine unterhaltsamere Abwechslung zu den Staatsmedien zu haben. Zahlen belegen, wie essenziell Softwarepiraterie im Alltag zahlreicher Südamerikaner ist. Auch diese Zahlen stammen von der Urheberrechtslobby und sind deshalb mit Vorsicht zu genießen Aber wenigstens beruhen sie weniger auf beliebig skalierbaren Schätzungen als die „Piratisierungsrate“ der türkischen Studie, sondern auf härteren und einfacher messbaren Fakten wie Seitenzugriffen und Bandbreite.
Wirtschaftliche Faktoren spielen bei Softwarepiraterie eine Rolle
Auch Wirtschaftssanktionen könnten Wissenschaftler beleuchten, wenn sie einen Zusammenhang mit Armut herstellen. Software ist immer seltener ein Produkt, das man kauft und dann für immer behalten kann. Immer mehr Firmen bieten Software als Dienstleistung an, die Kunden nur mieten können – und sie können davon jederzeit ausgeschlossen werden. Das war ebenfalls in Venezuela 2019 der Fall, als Adobe auf Anweisung Donald Trumps Kunden Benutzerkonten sperrte. Da jede Umstellung im Arbeitsworkflow die Produktivität einschränkt, also das Einkommen schmälert, dürften Kunden eher auf Warez umgestiegen sein, als sich freien oder kostenpflichtigen Konkurrenzprodukten zuzuwenden.
In allen Ländern Südamerikas hat sich das Bruttoinlandsprodukt zwischen 2003 und 2017 verdrei- oder gar vervierfacht. Die Armutsraten sind, mit einer Ausnahme, in allen Ländern gesunken. Auch das erwähnen die Autoren der Studie mit keinem Wort. Der Effekt dürfte aber statt der „Piratisierungsrate“ eher sozialen Errungenschaften zu verdanken sein: Einem Anstieg der Alphabetisierungsrate, steigenden Bildungsetats, der zunehmenden Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt, dem Kampf der indigenen Bevölkerung für Gleichberechtigung, dem Anstieg des Mindestlohns.
Insbesondere Alphabetisierungsprogramme und der Zugang zu höherer Bildung schuf für viele Südamerikaner überhaupt erst die Voraussetzung, der Armut zu entkommen, in eine Gegend mit stabilem Stromnetz zu ziehen und einen Computer oder ein Smartphone zu kaufen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass im globalen Süden das Internet außerhalb der größten Städte erst beim Aufbau des Mobilfunknetzes Einzug hielt. Wo es mehr Geräte gibt, gibt es auch mehr Softwarepiraterie. Die Nachfrage danach wird erst geschaffen, sobald Menschen ein internetfähiges Gerät besitzen.
Und was lernen wir daraus?
Die Autoren verwechseln also Ursache und Wirkung und haben damit der Freiheit von Software keinen Gefallen getan. Ihre Studie ist so absurd, wie einen Zusammenhang zwischen der Klimaerwärmung und dem Rückgang der Piraterie (hier: die mit Schiffen, Säbeln und Holzbeinen) herzustellen. Ihre Wissenschaftlichkeit ergibt sich alleine daraus, dass die Korrelation zwischen Armut und „Piratisierungsrate“ erstmal widerlegt werden müsste. Good luck with that.
Trotzdem ist die Studie zu Softwarepiraterie und Armut interessant, denn sie offenbart die Wissenslücken der Forschung in Bezug auf Softwarepiraterie und ihre Abhängigkeit von der Meinungshoheit der Urheberrechtslobby. Und wenn man den Faktor Bildung stärker einbezieht, ergibt sie wieder Sinn.
Der Zugang zu kostenloser Software ermöglicht es, den Umgang damit zu lernen und so ein höheres Bildungsniveau zu erreichen oder überhaupt erst die Chance zu bekommen, einen bestimmten Beruf – wie Videojournalist, Designer oder Programmiererin – auszuüben. Bildung war und ist der Schlüssel zu mehr Wohlstand, und zwar kultur- und länderübergreifend. Kosten, die Privatpersonen für die Aus- und Weiterbildung zu tragen haben, sind immer Gatekeeper vor dem sozialen Aufstieg – ob es sich um Schulbücher oder Software handelt. Armut kann nur dann effektiv bekämpft werden, wenn Bildung und digitale Arbeitsmittel kostenlos verfügbar und damit wirklich allen zugänglich sind.