Thomas Wüppesahl war ein Mitglied der Grünen der ersten Stunde. Wir möchten vom ehemaligen MbB wissen, wie es nun um die Partei bestellt ist.
Wir haben im November 2012 ein Interview mit einem ehemaligen Bundestagsabgeordneten der Grünen durchgeführt. Thomas Wüppesahl war ein Parteimitglied der ersten Stunde, bis er aus Überzeugung austrat. Wir möchten von ihm wissen, wie es derzeit um die Grünen bestellt ist.
Thomas Wüppesahl: Die heutigen Grünen sind angepasst
.Zwar präsentiert sich die Partei in der Öffentlichkeit seit jeher mit einem grün-alternativen Anstrich. Allerdings fragen sich nicht nur Kritiker, wie viel Substanz davon heutzutage noch übrig ist. Das und vieles mehr wollten wir von einem Ur-Grünen wissen, der schon im Mai 1987 aus der Partei ausgetreten ist. Wüppesahl war schon immer AKW-Gegner und gründete im Jahr 1987 gemeinsam mit Kollegen die Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizistinnen und Polizisten, auch genannt Hamburger Signal. Seit 1998 ist er Sprecher des eingetragenen Vereins. Doch in diesem Interview soll es weniger um den Kriminalbeamten, sondern den früheren Politiker gehen, der für uns das Geschehen bewerten soll…
Werdegang des früheren Bundestagsabgeordneten Thomas Wüppesahl
Lars Sobiraj: Herr Wüppesahl, Sie waren Mitglied und saßen für die Grünen im Deutschen Bundestag.
Thomas Wüppesahl: Ja, das ist beides korrekt. Das begann damit, dass ich in den 70er Jahren Bürgerinitiativen gegen die Kernenergie mit ins Leben rief. Ab 1978 beteiligte ich mich an der Gründung grüner Wählergemeinschaften. 1986 war ich im Präsidium des Landeshauptausschusses des grünen Landesverbandes. Schließlich wurde ich 1987 als Abgeordneter des Deutschen Bundestags gewählt. Ab 1988 war ich dort unabhängiger Abgeordneter, also ohne Zugehörigkeit zu einer Fraktion.
Lars Sobiraj: Wie kam es, dass Sie fraktionslos wurden?
Thomas Wüppesahl: Ich trat im Mai 1987 aus der Partei aus, was nicht hätte zwingend bedeuten müssen, auch vom Bundestagsmandat zurückzutreten. Ich wurde jedoch im Januar 1988 aus der grünen Bundestagsfraktion ausgeschlossen. Somit blieb ich allein meinem Gewissen und meinem Mandat, also dem Auftrag durch das Volk, weiter verantwortlich und arbeitete im Bundestag bis zum Ende und dabei auch sehr aktiv weiter.
Thomas Wüppesahl in der Talkshow von Jürgen Fliege.
Lars Sobiraj: Wie ist es denn konkret zu Ihrem Austritt gekommen?
Thomas Wüppesahl: Es ging um Missstände in der Gesundheitspolitik, insbesondere um skandalöse Missstände im Geesthachter Johanniter-Krankenhaus bis hin zur Todesfolge. Ich gründete eine Initiative, die darauf aufmerksam machte. Im Gegenzug wurden 25 Prozesse von Ärzten und sonstiger Prominenz gegen mich eingeleitet. Diese gewann ich zwar, doch den Grünen war ich zu kritisch und zu belastend geworden.
Thomas Wüppesahl: “ Man muss auch lernen, mit Einschüchterungsversuchen umzugehen“.
Lars Sobiraj: Stimmt das denn? Sind Sie zu kritisch?
Thomas Wüppesahl: Ich war so kritisch, wie es die Grünen eben damals waren. Wir leben in einem Land, in dem man sich wehren muss und darf, wenn es angesagt ist. Wer sich gegen Missstände wehrt, lebt nicht einfach, sondern muss auch lernen, mit Einschüchterungsversuchen gesund umzugehen – aber er kann sich jeden Morgen in sein eigenes Gesicht im Spiegel schauen.
Lars Sobiraj: Ihre weitere Arbeit im Bundestag verlief nicht ohne Probleme?
Thomas Wüppesahl: Die im Bundestag vertretenen Parteien waren sehr einhellig der Meinung, dass unabhängige Abgeordnete keine Rechte haben sollten. Ich stand mit meiner anderslautenden Meinung also schließlich vor dem Bundesverfassungsgericht … und gewann in bedeutenden Teilen. Dieses Urteil ist auch heute noch nicht vergessen, habe ich mir sagen lassen.
Lars Sobiraj: Wie stehen Sie denn heutzutage den Grünen gegenüber?
Wüppesahl: Ich betrachte die Grünen heute immer noch mit viel Sympathie. Ich bin aber auch für Alternativen offen, weil die heutigen Grünen, wie sie selbst zu gerne betonen, in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Kurzum: sie sind angepasst.
Lars Sobiraj: Die Grünen haben ihre Spitzenkandidaten von ihren eigenen Mitgliedern direkt wählen lassen, nächstes Wochenende wird das Ergebnis bekannt gegeben (Stand 2013). Wie finden Sie dieses Verfahren?
Wüppesahl: Es ist eine sinnvolle Maßnahme, die Mitglieder direkt zu beteiligen. Wie man sieht, kann man die direkte Beteiligung ja tatsächlich ohne allzu großen Aufwand durchführen. Es stellt sich also die Frage, warum man das nicht schon viel eher gemacht hat. Vor allem sollte man sich fragen, wo die Grünen heute stünden, wenn sie es schon immer so gemacht hätten.
Die Wahl wird weniger spannend
Lars Sobiraj: Zur Wahl standen insgesamt 15 Kandidatinnen und Kandidaten, die meisten davon sind völlig unbekannt. Wird die Wahl tatsächlich spannend?
Wüppesahl: Spannend wird es allein auf die Frage, ob durch das Frauen bevorteilende Wahlrecht der Grünen der einzige profilierte männliche Kandidat, Jürgen Trittin, herausgekegelt wird. Allein die Anzahl der Bewerberinnen und Bewerber ist bemerkenswert. Offenkundig rechnen sie sich im Direktverfahren eine Chance gegen die altbekannten Kandidaten wie Trittin, Künast und Roth aus. Die Grünen reagieren auf neue politische Konkurrenz wie die „Piraten“ mit verstärkter Transparenz und Partizipation.
Lars Sobiraj: Haben die weniger bekannten Bewerber denn wirklich eine Chance, in das Spitzenduo gewählt zu werden?
Wüppesahl: Nein, aber sie nutzen sie. Das ist gut, denn so fängt Politik immer an.
Lars Sobiraj: Der ehemalige Bundeskanzler, Gerhard Schröder, SPD, warb öffentlich für Jürgen Trittin. Was sagen Sie dazu?
Wüppesahl: Es ist ja bekannt, dass viele Politiker des realen Flügels der Grünen der SPD viel näher stehen, als man vermutet. Das sehen wir am Beispiel Otto Schily, der im November 1989 dann auch zur SPD wechselte, nachdem er nicht mehr in den grünen Fraktionsvorstand gewählt worden war.
Die Grünen haben sich weit von ihrem Fokus entfernt…
Lars Sobiraj: Wie zufrieden sind Sie mit den Grünen heute?
Wüppesahl: Die Grünen sind heute weit weg von dem, was sie einmal sein wollten. Die Grünen steuern nichts Vernünftiges zur Friedenspolitik, zur Ordnungspolitik und zur sozialen Gerechtigkeit bei. Auch in ihrem Kernthema, der Umweltpolitik, liegen die Grünen weit hinter ihren Ansprüchen.
Lars Sobiraj: Wie sehen Sie die Ära der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer von 1998 bis 2005?
Wüppesahl: Die rot-grüne Koalition brach in ihrer zweiten Legislaturperiode schon nach drei Jahren zusammen, das ist Fakt. Und in der ersten rot-grünen Legislaturperiode bestand die Koalition auch nur, weil sich die Grünen programmatisch deformieren ließen. Die Ergebnisse bei den Landeswahlen wiesen darauf hin, dass diese Koalition das Vertrauen der Bürger verspielt hatte.
Viele Bürger warten vergeblich auf die versprochene Gerechtigkeit
Lars Sobiraj: Was meinen Sie damit genau?
Wüppesahl: Es gibt da viele Parameter. So trug rot-grün nicht genügend dazu bei, die Deutsche Einheit bezüglich der erheblichen Disparitäten bei Löhnen, Lebensstandard und Renten voranzubringen. Die Menschen im Osten warten bis heute auf die Gerechtigkeit, wie sie das bundesdeutsche Grundgesetz vorsieht. Auch das Versprechen von Hilfen nach der Elbkatastrophe 2002 ersetzte das allein nicht:
Die Wiedervereinigung war mir immer ein Anliegen. Selbst legte ich im Bundestag insgesamt 518 Änderungsanträge zum Ersten Staatsvertrag der DDR und BRD, genannt „Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion“, vor. Übrigens während die Grünen zugleich orientierungslos und handlungsunfähig 1990 ihre Abwahl aus dem Bundestag „vorbereiteten“.
Lars Sobiraj: Wie urteilen Sie über die rot-grüne Sozialpolitik dieser Zeit?
Thomas Wüppesahl: Die Grünen sind mit verantwortlich für die Verabschiedung der Hartz IV-Gesetzgebung mit unmöglichen Rahmenbedingungen gerade für Familien mit Kindern. Die Leiharbeit, zuvor noch stigmatisiert, wurde mit großem Aufwand unter Rot-Grün hoffähig gemacht. Also rechtsstaatlich ummantelte Sklavenarbeit. Es wurde der Niedriglohnsektor zulasten von sozialversicherungspflichtiger Tätigkeit geschaffen, der – was für eine Überraschung – mittlerweile die Mehrzahl der neu geschaffenen Stellen darstellt. Tariflöhne wurden zurückgedrängt, die Gewerkschaften in diesem Land marginalisiert. Für Asylsuchende wurde eine Versorgung als Menschen dritter Kategorie berechnet. Wir sind mit Kinderarmut und mit Altersarmut konfrontiert. In der Gesundheitspolitik haben wir nun eine Zwei-Klassen-Gesellschaft.
Grüne mitverantwortlich an der Einführung der riskanten Hedgefonds
Lars Sobiraj: Wie werten Sie die rot-grüne Wirtschaftspolitik?
Wüppesahl: Die Grünen waren mitverantwortlich für das Einführen von Hedgefonds und diversen weiteren Instrumenten, die mit ursächlich für den Banken-Gau von 2007 waren. Dem Volk als Souverän wurde die Möglichkeit einer Volksabstimmung über die Euro-Einführung in den Jahren 1999 bis 2002 vorenthalten wie bereits bei der deutschen Einheit. Trotz eindeutiger Bestimmungen im Grundgesetz. Die dilettantische Art und Weise, wie der Euro von der sog. politischen Klasse eingeführt wurde, ist eine Katastrophe. Was wäre wohl das Ergebnis einer Volksabstimmung, würde man diese grundgesetzlich vorgesehene Macht- und Entscheidungsbeteiligung heute nachholen?
Die Grünen versagten also offenkundig in so großen Politikfeldern wie der Sozial-, Wirtschafts-, Finanz- und Europapolitik.
Es wunderten sich ja selbst die Vorstände und Aufsichtsräte über die sie begünstigende Qualität an Steuerbefreiungen bei Unternehmensverkäufen, Steuersenkungen bei der Körperschaftssteuer, Senkungen des Spitzensteuersatzes und dem ersatzlosen Abschaffen der Vermögenssteuer, die unter Kohl-Regierungen undenkbar gewesen wären. Schröder galt mit tatkräftiger grüner Assistenz als der Genosse der Bosse.
Lars Sobiraj: Sie sind Bundessprecher der Kritischen Polizisten/Hamburger Signal. Wie stehen Sie zur rot-grünen Sicherheitspolitik?
Wüppesahl: Die Renaissance von Militäreinsätzen als Mittel der Außen- und Wirtschaftspolitik führte ja bekanntlich 1999 nicht nur zu einem Farbbeutelwurf gegen Fischer, sondern zu einer Austrittswelle bei den Grünen. Aktuell gibt es zum Beispiel für Afghanistan keinen Plan, wie es nach dem Militärabenteuer mit all seinen Opfern weitergehen soll. Der Einsatz ist gescheitert.
Otto Schily baute Bürgerrechte konsequent ab
Lars Sobiraj: Und bezüglich der Sicherheit im Innern?
Thomas Wüppesahl: Im innenpolitischen Bereich schränken die sogenannten Sicherheitspakete I und II, besser unter „Otto-Kataloge I und II“ bekannt, plus weitere bürgerrechtliche Abbau-Gesetze die Bürgerrechte in einem unnötigen Ausmaß ein. Die Option, Flugzeuge mit Hunderten Unschuldigen abzuschießen, rundete das ungrüne Gesamtbild ab. Zusätzlich noch die Erstauflage des verfassungswidrigen Europäische Haftbefehls und anderes mehr.
Auch die systemischen Defizite in den Sicherheitsorganen von Polizeien und Verfassungsschutzämtern, wie sie jetzt bei der NSU-Mord-Serie sichtbarer werden, wurden unter Rot-Grün gepflegt und zum Teil mit entwickelt. Die Politiker wissen einfach nicht, was tatsächlich in den Ermittlungsorganen los ist. Das ständige Mantra an die Bevölkerung, den Beamten zu trauen, sie würden Augenmaß beweisen, ist lächerlich! Auch im Bürgerrechtsbereich erwiesen sich die Grünen als unzuverlässig.
Und auf Landesebene, wie bei der schwarz-grünen Episode in Hamburg, muss man leider eher schwarzsehen. Grüne Inhalte sind hier nicht verwirklicht worden. Man sollte Ultrarechte nicht zu Vorsitzenden von Strafkammern an Landgerichten einberufen, wenn man als „Grüner“ Justizsenator ist. Genauso in Baden-Württemberg, wenn man sowohl auf das Justiz- als auch das Innenressort verzichtet. Das ist politische Unreife.
Thomas Wüppesahl: Wohin mit dem ganzen Atommüll?
Lars Sobiraj: Sie sind gegen die Kernenergie aktiv, was sagen Sie zum Atomausstieg?
Wüppesahl: In meiner Heimatstadt Geesthacht befanden sich drei Forschungsreaktoren, liegt noch der stillgelegte Atomantrieb der Otto Hahn, steht der größte Siedewasserreaktor der Welt, der nach dem Willen von Vattenfall wieder anlaufen soll, ein Castor-Lager und ein Lager mit mittelradioaktiven Fässern, über deren schlechten Zustand der Betreiber Vattenfall nicht viel sagen möchte. Geesthacht ist der Mittelpunkt des Leukämie-Clusters in der Elbmarsch. Und das nach über einer Dekade nach dem Atomausstieg rot-grüner Machart.
Der Atomausstieg unter der rot-grünen Bundesregierung schrieb faktisch den Betrieb solcher Anlagen fest, bis sie von alleine auseinanderzufallen drohen. Die jetzige Bundesregierung machte wenige Monate nach Amtsantritt durch einfache gesetzgeberische Tätigkeit deutlich, was man mit einem klaren politischen Willen alles hätte machen können. Und diese Merkel-Regierung machte es nach Fukushima nochmals vor. Auch mit einer nachgelieferten Gesetzgebung. Nach schwarz-gelbem Willen werden die Anlagen nun eher stillgelegt, als es Rot-Grün vorsah. Die Grünen waren dafür politisch zu unreif.
Lars Sobiraj: Ist das vielleicht übertrieben?
Thomas Wüppesahl: Viele Bürgerinitiativen vor Ort wie in Gorleben fühlten sich veralbert, wenn grüne Spitzenvertreter sie fast höhnisch darauf verwiesen, dass diese Proteste gegen die Atomkraft überflüssig seien. Und dann liefen die Castoren weiter nach Gorleben, das als Endlager bekanntlich völlig ungeeignet ist. Was wir in Deutschland brauchen, ist ein fester Termin für die Abschaltung des letzten Atommeilers, damit auch für den Rückbau Planungssicherheit entsteht. Und dann müssen wir der Frage nach wissenschaftlichen Kriterien nachgehen: wohin dann mit dem ganzen Atommüll?
Fossile Energie ist nicht per se besser
Lars Sobiraj: Sind fossile Energieträger denn besser?
Thomas Wüppesahl: Nein, natürlich nicht. Ebenso wenig ist erkennbar, inwieweit sich die Grünen endlich von der Verbrennung von fossilen Brennstoffen distanzieren wollen. Unter Rot-Grün wurde in NRW Garzweiler als Braunkohleabbaugebiet angestoßen. Eines der größten Löcher in Europa.
Und apropos grüne Unzuverlässigkeit: Unter Ole von Beust setzte eine grüne Umweltsenatorin ihre Unterschrift unter den Genehmigungsbescheid für eines der größten Kohlekraftwerke Europas in Hamburg. Als Kollateralschäden gab es maßlose Polizeieinsätze gegen Umweltschützer noch oben drauf.
Was jetzt deutlich gemacht werden muss: dass es die globale Katastrophe fördert, wenn die Urwälder für Ölpalmenplantagen abgeholzt werden.
Diese Partei ist schon lange nicht mehr ökologisch.
Lars Sobiraj: Gut, dann fragen wir einmal anders. Wie ökologisch sind denn die Grünen?
Thomas Wüppesahl: Müssen Sie denn alle Punkte ansprechen, bei denen Grüne versagten? Der Grundwert „ökologisch“ wurde anscheinend nahezu auf das Dosenpfand reduziert. Das Duale System bedeutet das Scheitern einer müllreduzierten Gesellschaft mit Abfallvermeidung und ökologisch abbaubaren Verpackungsstoffen. Gelbe Säcke werden in der Müllverbrennungsanlage auf Kosten des Verbrauchers verbrannt, der beim Kauf für die Entsorgung und Mülltrennung eine Pauschale bezahlt hat. Das war nicht das Ziel der ökologisch-alternativen Bewegung.
Auch wenn ich mich wiederholen sollte: Am prägnantesten ist der Bruch mit einem ökologischen Umbau aufzuzeigen mit solchen Entscheidungen von grünen Umweltministerinnen wie in NRW zur Braunkohle oder in Hamburg zu einem großen Kohlekraftwerk.
Lars Sobiraj: Und wie basisdemokratisch sind die Grünen?
Thomas Wüppesahl: Im grünen Wahlprogramm 1998 waren Volksabstimmungen, wie immer seit Bestehen grüner Programmatik, ausdrücklich ausgewiesen. „Basisdemokratisch“ stellte seit der Parteigründung einen von vier Grundwerten dar. Danach stellte man sie praktisch auf Null, weil der ungewählte „große Parteivorsitzende“ Fischer es so wollte. Bei „Stuttgart 21“ machte man dann alle altbekannten Fehler: Die Grünen ließen sich eine Volksabstimmung im Wortlaut des politischen Gegners, der SPD, diktieren. Wer dagegen war, musste mit „ja“ stimmen, wer dafür war mit „nein“ und worüber inhaltlich tatsächlich abgestimmt wurde, wird bis heute gerne ummantelt.
Am Ende gab es einen klaren Gesamtsieg für die Immobilienverwerter des Bahnhofsgeländes. Und dieses Desaster bei „Stuttgart 21“ – wie beim Afghanistan-Feldzug, beim Atomausstieg oder dem grünen Sozialabbau mit Zerstörung der Sozialversicherungssysteme – entstand, während eine Arbeitsgruppe für mehr parteiinterne Demokratie arbeitete. Ein lobenswertes Unterfangen, nachdem Rot-Grün auf Bundesebene durch die Regierungsbeteiligung genau diese Basisdemokratie klein geschreddert hatte. Ich empfinde dies als politische Unreife.
Auf Kernkompetenzen konzentrieren
Lars Sobiraj: Was würden Sie den Grünen empfehlen?
Thomas Wüppesahl: Die Grünen hatten immer bestimmte Schwerpunkte (Ökologie, Bürgerrechte, gegen Atomenergie, Sozialanspruch, Friedenspolitik). Das reicht! Und wenn diese Belange wieder ihren früheren Stellenwert einnähmen, wäre für unsere Gesellschaft viel gewonnen.
Lars Sobiraj: Wie sehen Sie die Chance der Grünen bei der kommenden Bundestagswahl?
Thomas Wüppesahl: In Stuttgart und bundesweit hatten die Grünen gute Zahlen (Stand 2013). Höher als je zuvor. Das war wesentlich den Ereignissen in Fukushima und „Stuttgart 21“ geschuldet. Das Scheitern von Künast bei den Landtagswahlen in Berlin zeigt auf, dass die Grünen längst wieder zu Fuß gehen.
Keine basisdemokratische Struktur mehr vorhanden…
Lars Sobiraj: Mit welcher Regierung müssen wir Ende 2013 rechnen?
Thomas Wüppesahl: Für Wahrsagerei habe ich keine Gewerbeerlaubnis, aber viele Menschen stellen sich auf Schwarz-Rot als die wahrscheinlichste Koalition ein. Und selbstredend wird es Schwarz-Grün geben, wenn das Wahlergebnis es möglich macht. Auch deshalb traten im letzten Moment Renate Künast und Katrin Göring-Eckardt für den Realo-Flügel bei den laufenden Urwahlen zur Findung der Spitzenkandidaten an.
Lars Sobiraj: Wollen Sie denn überhaupt eine grüne Regierungsbeteiligung?
Thomas Wüppesahl: Grundsätzlich geantwortet: Die Grünen müssen genauer abwägen, ob ihre Regierungsbeteiligung sinnvoll ist. BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN hätten in den sieben Jahren Rot-Grün von 1998 bis 2005 in der Opposition mehr bewirkt, als sie an gesellschaftlichen Flurschäden aus der Regierung heraus heute zu verantworten haben.
Eine Regierungsbeteiligung taugt nur dann, wenn die Kompromisse stimmen. Es sollte nicht wie unter Schröder und Fischer oder Schwarz-Grün in Hamburg im Wesentlichen auf die persönliche Karrierebefriedigung einiger grüner Funktionäre hinauslaufen. Die Spitzenkräfte müssen diese Charakterstärke gegenüber ihrem eigenen Ego selbst aufbringen, weil eine Basisdemokratie als Korrektiv bei den Grünen derzeit nicht stattfindet.
Lars Sobiraj: Herr Wüppesahl, vielen Dank für dieses offene Gespräch! Hier ist der Link zu seiner Webseite, sofern Bedarf an weiteren Informationen besteht.
Beitragsbild: Fotograf: Martin Bühler, danke!
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