section control, jenoptik, kesy
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Section Control: wachsende Kritik am Pilotprojekt des Streckenradars

Section Control "Jenoptik": Im Raum Hannover wurde am Montag früh Deutschlands erstes Streckenradar aktiviert, der Widerstand dagegen wächst.

Section Control „Jenoptik“: Im Raum Hannover aktivierte man am Montagmorgen Deutschlands erstes Streckenradar. Die Kameras fotografieren jedes durchfahrende Fahrzeug unabhängig von seiner Geschwindigkeit. Kritiker bemängeln die große Datenmengen, die dabei entstehen. Sie befürchten eine zweckentfremdete Nutzung der Daten. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) in NRW bezeichnet derartige Bedenken als „zynisch„.

Nachbarländer machten den Anfang

In einigen Nachbarländern wie Belgien, Großbritannien, Österreich oder den Niederlanden wird die Technologie namens „Section Control“ schon länger eingesetzt. Die Blitzer stehen nicht wie üblich an einer einzigen Stelle. Man hat sie gleich mehrfach in einem Streckenabschnitt aufgestellt. Sie überprüfen dort die Durchschnittsgeschwindigkeit der passierenden Fahrzeuge. Das Verfahren wird primär dort eingesetzt, wo es in der Vergangenheit häufiger zu Verkehrsunfällen gekommen ist. Die vielen demonstrativ aufgestellten Radaranlagen sollen die Fahrer dazu bewegen, ihren Fuß vom Gaspedal zu nehmen. Die Fahrzeuge werden mittels der automatischen Nummernschilderkennung identifiziert. Alle Fahrspuren inklusive des Standstreifens werden dabei überwacht. Raser können mit einem Spurwechsel folglich nichts erreichen. Das intelligente System kann automatisch zwischen PKW, LKW und PKW mit Anhänger inklusive der jeweils unterschiedlichen Höchstgeschwindigkeiten, unterscheiden.

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Österreich: Warnung vor einer Section Control.

Erster Einsatz der Section Control in Niedersachsen

Die bundesweit erste Anlage mit Streckenradar schaltete man Anfang dieser Woche scharf. Eine Sprecherin des niedersächsischen Innenministeriums bestätigte dem NDR, dass die Geräte Montagmorgen auf der B 6 bei Laatzen aktiviert wurden. Damit hat man nach Abschluss der Tests die Erprobungsphase eröffnet, die bis Juni 2020 andauern soll. Die Blitzer überwachen nun einen 2,2 Kilometer langen Streckenabschnitt, wo täglich etwa 15.500 Autos durchfahren. Dort gab es vermehrt schwere Unfälle, häufiger wohl auch aufgrund der überhöhten Geschwindigkeit.

Datenschutz in Europa unterschiedlich geregelt

Es gibt allerdings Unterschiede beim Einsatz des Streckenradars im Hinblick auf den Datenschutz. Während in den Nachbarländern das Abfotografieren von Fahrzeugen kein Problem darstellt, müssen die Bilder in Deutschland verschlüsselt werden, sofern die erlaubte Höchstgeschwindigkeit eingehalten wurde. Beim Eintreten und Verlassen des überwachten Abschnitts wird jeweils ein Foto geschossen, was verschlüsselt wird. Erst wenn durch die Analyse der Durchschnittsgeschwindigkeit aufgrund mehrerer Fotos eine mögliche Tempoüberschreitung festgestellt wird, wird ein weiteres, unverschlüsseltes Foto des Temposünders erstellt. Das wird dann an die entsprechende Behörde für das Kassieren weitergeleitet. Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) hält die Section Control für einen „vielversprechenden Ansatz„, um die Verkehrssicherheit weiter zu erhöhen. Im Gegensatz zu einzelnen fest installierten Blitzern hält Pistorius eine Geschwindigkeitsmessung über einen längeren Streckenabschnitt für „gerechter für alle Beteiligten„.

Klage gegen Section Control geplant

Doch genau diese Gerechtigkeit wird vom Juristen Patrick Breyer, Spitzenkandidat der Piratenpartei für die Europawahl, infrage gestellt. Breyer glaubt, man könne als Autofahrer viel zu schnell in die Erkennungsstrecke hinein rasen und im Gegensatz zum einzelnen Blitzer, ungestraft bleiben. Entscheidend sei keine Momentaufnahme, sondern die durchschnittliche Geschwindigkeit, die von allen Geräten gemessenen wird. „Fakt ist, dass wegen der hohen Fehlerkennungsrate viel zu viele Raser unerkannt bleiben. Man kann sogar viel zu schnell in die Erkennungsstrecke hinein rasen und ungestraft bleiben, solange man danach abbremst. Viel wirksamer, zuverlässiger und günstiger wäre die Aufstellung und Beschilderung herkömmlicher Messgeräte am Anfang und am Ende der Gefahrenzone. Dazu muss man nicht wahllos jedes Fahrzeug fotografieren, ist übrigens klar illegal.

Breyer will sich juristisch gegen das Verfahren zur Wehr setzen. Er sucht derzeit nach betroffenen Autofahrern, die bereit sind, mit seiner Unterstützung, „durch die Instanzen zu gehen„. Nach Ansicht des Verkehrsrechtlers Christian Janeczek sei bei der Section Control „Jenoptik“ die Wahrung des Datenschutzes sichergestellt. Der Ausgang des Verfahrens vor Gericht dürfte allerdings für etwas mehr Klarheit und Rechtssicherheit sorgen.

Wachsende Kritik von mehreren Seiten

Auch Thomas Wüppesahl, Sprecher des Berufsverbandes „Kritische Polizisten„, beurteilt die gegenwärtige Entwicklung auf unsere Anfrage hin, sehr skeptisch:

„Jede anlasslose Datenerfassung führt früher oder später zu Begehrlichkeiten, sie auszuweiten oder anderweitig zu nutzen. Die Maut ist ein guter Beleg dafür, wie kurz die Halbwertszeit entgegenlautender Beteuerungen und Behauptungen sein kann. Insofern sehen wir auch dieses Überwachungssystem kritisch. Bitteschön, wo ist eigentlich das Ende der Fahnenstange?“

padeluun, ein Vorsitzender des Vereins Digitalcourage mit dem Fokus auf Datenschutz, lässt bei seiner Analyse kein gutes Haar an der kürzlich eingeführten Technologie:

„Hier wird eine Überwachungsinfrastruktur eingesetzt über die sich zwei Sachen sagen lassen. Bürgerinnen und Bürger müssen wissen, dass Überwachung stets verschärft und ausgeweitet, aber so gut wie nie zurückgefahren wird. Und: Das soziale Problem Rasen will man technisch mit Überwachung lösen – das ist schlechte Politik.“

Gewerkschaft der Polizei NRW hält Einführung für „überfällig

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Abschnittskontrolle bei Gföhl, Niederösterreich. Gemeinfreies Foto von DonatelloXX.

Aus Sicht der Gewerkschaft der Polizei NRW (GdP) sei die Einführung von Section Control „überfällig„. Man dürfe es nicht durch den „reflexhaften Verweis“ auf einen angeblichen Generalverdacht verhindern, schrieb der stellvertretende GdP-Landesvorsitzende Michael Mertens. Gegenüber den Opfern schwerer Verkehrsunfällen sei der Verweis auf den Datenschutz der Autofahrer „zynisch„. Das Bundesverwaltungsgericht habe den Generalverdacht der Fahrzeughalter bereits bei weit weniger sicheren Methoden zur Kennzeichenerfassung zur Strafverfolgung in Bayern klar verneint.  Das müsse auch die Landespolitik in Düsseldorf zur Kenntnis nehmen. Die GdP fordert für NRW schon seit längerem eine rasche Einführung der Geschwindigkeitskontrolle nach dem Gießkannenprinzip. Man könne damit einen unfallreichen Streckenabschnitt von zwei oder mehr Kilometern geradezu „befrieden„, heißt es.

Patrick Breyer entgegnet, die GdP in NRW „verhöhne“ mit derartigen Forderungen geradezu die Opfer von Verkehrsunfällen. Man gaukle mit der „Section Control-Massenkontrolle“ eine Sicherheit vor, „die das Verfahren gar nicht bewirkt.

Deutscher Regelbetrieb von Section Control noch nicht in Sicht

Bis das System nach Niedersachen erstmals in Nordrhein-Westfalen oder anderswo eingeführt wird, dürfte aber noch etwas Zeit vergehen. Auf Anfrage der NRZ gab ein Sprecher des Düsseldorfer Landesinnenministeriums bekannt, man warte zunächst ab, bis die Pilotphase und wohl auch dessen Auswertung abgeschlossen sei. Erst dann entscheidet man, ob man auf Landesebene die gesetzlichen Grundlagen für die Einführung des Streckenradars schaffen will. Auch in Niedersachen muss für den Regelbetrieb eine Gesetzesänderung vorgenommen werden. Frei von Problemen liefen die Vorarbeiten wohl nicht ab: Pistorius eröffnete die umstrittene Section Control-Anlage zwischen Laatzen und Sartedt kurz vor Weihnachten mit einer dreijährigen Verspätung.

Wie die Neue Presse berichtet, musste das Innenministerium zunächst datenschutzrechtliche Bedenken ausräumen. Danach sorgte eine Sicherheitsprüfung für eine weitere Verzögerung der Einführung der umstrittenen Anlage.

Leider führt man nirgendwo in der Berichterstattung aus, wie lange man die Fotos eigentlich aufbewahren darf. Es wäre spannend zu wissen, ob man diese zeitnah löschen muss. Das würde sie davor bewahren, dass eine andere Behörde sie für andersartige Zwecke einsetzen würde. Es bleibt zudem abzuwarten, ob die Bundesländer ihre Fristen für die Löschung der Fotos unterschiedlich setzen werden.

Beitragsbild von Paul Smith, thx!  (Unsplash Lizenz)

Tarnkappe.info

Lars Sobiraj

Über

Lars Sobiraj fing im Jahr 2000 an, als Quereinsteiger für verschiedene Computerzeitschriften tätig zu sein. 2006 kamen neben gulli.com noch zahlreiche andere Online-Magazine dazu. Er ist der Gründer von Tarnkappe.info. Außerdem brachte Ghandy, wie er sich in der Szene nennt, seit 2014 an verschiedenen Hochschulen und Fortbildungseinrichtungen den Teilnehmern bei, wie das Internet funktioniert.