Sexueller Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche ist auch acht Jahre nach dem Interview mit Norbert Denef (netzwerkB) ganz aktuell.
Sexualisierte Gewalt: „Wir sprechen über ein Massenverbrechen“
„Ich habe 35 Jahre lang geschwiegen, verleugnet und verdrängt.“
Lars Sobiraj: Sehr geehrter Herr Denef, können Sie uns zunächst etwas zu Ihrer Person sagen? Norbert Denef: Ich bin 69 Jahre alt, verheiratet, habe zwei erwachsene Kinder und lebe mit meiner Frau an der Ostsee in Scharbeutz (Stand 2019). Lars Sobiraj: Wie alt waren Sie, als sie zum ersten Mal von einem Priester vergewaltigt wurden? Norbert Denef: Ich war 10 Jahre alt.Opfer hat man schon mit 10 Jahren missbraucht
Lars Sobiraj: Wie lang geschah das? Norbert Denef: Sechs Jahre lang. Lars Sobiraj: Sie wurden danach vom Organisten missbraucht? Norbert Denef: Ja, zwei Jahre lang, bis ich 18 Jahre alt war. Lars Sobiraj: Wie sind sie in Ihrem weiteren Leben damit umgegangen? Norbert Denef: Ich habe 35 Jahre lang geschwiegen, verleugnet und verdrängt. Als Leben möchte ich das nicht bezeichnen. Ich habe immer irgendwie versucht zu überleben. Ausführlich schreibe ich darüber in meinem Buch „Ich wurde sexuell missbraucht“. Es erschien 2007.Norbert Denef: Ich war nur noch eine Hülle
Lars Sobiraj: Wie alt waren Sie, als Sie zusammenbrachen? Was ist da passiert? Norbert Denef: Ich war eine Hülle, die funktionierte. Sexuell ausgebeutet, die beiden Täter idealisierend, mit paradoxer Dankbarkeit ihnen gegenüber und dem Gefühl eine besondere oder übernatürliche Beziehung zu ihnen zu haben – so startete ich ins Leben. Körperlich war ich erwachsen. Depressionen, Schlafstörungen, Ängste, innere Unruhe, Schwindel, Herzklopfen und Schwitzen nahmen immer mehr zu. Ich war technischer Leiter in einem Stadttheater, hatte Familie, bis ich schließlich im Alter von 40 Jahren völlig zusammenbrach. Lars Sobiraj: Was haben Sie dann gemacht? Norbert Denef: Ich bin in eine ganzheitliche Klinik für psychosomatische Medizin gegangen. Dort habe ich mein erstes Psychologie-Buch gelesen. Ich verstand, dass ich nicht der Einzige bin auf dieser Welt, dem es so schlecht geht. Ich wollte noch mehr wissen, deshalb machte ich unmittelbar nach dem Klinikaufenthalt noch eine Ausbildung zum ärztlich geprüften Gesundheitsberater.Pfarrer wollte lieber die Gemeinde schützen
Lars Sobiraj: Kamen Sie ins Gespräch mit der Kirchengemeinde, wie verhalten sich die Menschen dazu? Norbert Denef: Nach meinem Abbruch der Schweigemauer, bei einem Familientreffen, 1993, im Beisein der beiden Täter, nahm ich Kontakt mit dem damaligen Pfarrer der Kirchengemeinde auf. Ich bat ihn um Hilfe. Nach vier Monaten Warten bekam ich eine niederschmetternde Antwort in Briefform. Der Pfarrer ließ mich wissen, dass er meinen Fall lediglich zur Kenntnis nehmen könne, weil sich mein Anliegen nur schwer oder gar nicht verobjektivieren ließe. Insbesondere sei er als Pfarrer verpflichtet, Schaden von seiner Gemeinde fernzuhalten. Ich solle die verheerenden Folgen einer Bekanntmachung für Angehörige, für die Gemeinde und den ganzen Klerus bedenken. Er schrieb: „Ich kann und will Sie dabei nicht unterstützen“. Der SPIEGEL veröffentlichte im Dezember 2005 meine Geschichte, dann berichtete auch das Fernsehen darüber und befragte dazu die Gemeinde. Die Antwort in der Gemeinde lautete „Den Quatsch, den können Sie sich an den Hut stecken.“Gemeinde will keine Aussöhnung: Klageandrohung statt Aufarbeitung
Lars Sobiraj: Ging es Ihnen dabei allein um eine Entschädigung, als Sie sich an die Kirche wandten? Norbert Denef: Nein. Um aus der bestehenden Sprachlosigkeit herauszufinden, schrieb ich der Gemeinde einen offenen Brief und schlug darin vor, unter Hinzuziehen eines unabhängigen, beiderseits akzeptierten Konflikthelfers (Ombudsmann), in einer öffentlichen Veranstaltung gemeinsam mit den Opfern und Gemeindevertretern, einen Weg zur Aufarbeitung festlegen. Ich schlug vor, die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz in die Tat umzusetzen, dort heißt es nach Abschnitt V, 10: „Im Umfeld von Täter und Opfer werden Maßnahmen zur Überwindung von Irritationen, Sprachlosigkeit und Trauer getroffen. Im Einzelfall wird, wenn nötig, ein Netzwerk angeboten, dass einer Isolation des Opfers und seiner Familie entgegenwirkt.“ Von den Verantwortlichen des Bistums Magdeburg wollte ich ein klares Bekenntnis und Übernahme von Verantwortung einfordern, da sich der fortgesetzte sexuelle Missbrauch durch Angehörige des damaligen erzbischöflichen Kommissariats Magdeburg letztendlich nur deshalb ereignen konnte, weil die Verantwortlichen nicht frühzeitig wirksam eingeschritten waren, sondern durch die damals übliche Strafversetzungs-, Geheimhaltungs- und Schweigepraxis die Täter deckten und damit weiteren Missbrauch ermöglichten. Kurz darauf bekam ich von dem Pfarrer der Gemeinde zwei Klageandrohungen wegen Verleumdung. Er wurde vom selben Anwalt vertreten, der im Auftrag des Bistums Magdeburg versucht hattte, mich mit 25.000 Euro zum Schweigen zu bringen.Seine Familie grenzt ihn systematisch aus
Lars Sobiraj: Wie geht Ihre Familie mit Ihrem Schicksal um? Norbert Denef: Meine Herkunftsfamilie grenzt mich seit dem Abbruch meiner Schweigemauer aus – seit 18 Jahren. Auch meine Frau und meine beiden Kinder werden ausgegrenzt. Die halten aber zu mir und ertragen mich. Lars Sobiraj: Sie haben ein Buch über Ihre Erfahrungen veröffentlicht. Norbert Denef: Ja, der Titel ist „Ich wurde sexuell missbraucht.“ Das Buch ist Zeugnis vom Leidensweg eines Menschen, der sexuell missbraucht wurde. Es zeigt, wie zerstörerisch sexueller Missbrauch auf das gesamte weitere Leben eines Opfers einwirkt. Wie Umwelt und Familie auf meine Offenbarung reagierten und wie die katholische Kirche mit meinem Problem umging.Verjährungsfristen müssen aufgehoben werden
Lars Sobiraj: Sie sind Vorsitzender von netzwerkB. Was will diese Organisation erreichen? Norbert Denef: Betroffene von sexualisierter Gewalt werden in unserer Gesellschaft nach wie vor ausgegrenzt, das müssen wir ändern. Sexualisierte Gewalt ist ein Verbrechen gegen die Menschenwürde, deshalb setzen wir uns dafür ein, dass die Verjährungsfristen aufgehoben werden und zwar rückwirkend, damit eine Aufarbeitung und eine Hilfe stattfinden kann. Denn wenn die Opfer weiterhin per Gesetz schweigen müssen, hat das leidvolle Schweigen kein Ende. Lars Sobiraj: Welche Gruppen von Opfern gibt es, welche davon vertritt netzwerkB? Norbert Denef: Unser Fokus gilt allen Betroffenen von sexualisierter Gewalt. Also sowohl Opfer im privaten wie auch im institutionellen Bereich, die einen einmalig oder mehrfach, andere jahrelang und systematisch durch Angehörige. Dabei müssen wir auch erkennen, dass physische, pychische und sexualisierte Gewalt kaum voneinander zu trennen ist, in ihren Formen ist sie oft nicht genau zu trennen, nicht in ihren Ursachen, und auch nicht in ihrer Wirkung. Das gilt im häuslichen, familiären Bereich, oder in manchen Institutionen. Im Benediktinergymnasium Ettal wurden die Kinder und Jugendlichen missbraucht, andere so schwer misshandelt, dass die Rohrstöcke auf ihren Rücken zerbrachen, und manchen widerfuhr beides. Zu unserer Zielgruppe zählen nicht „nur“ die, die unmittelbar betroffen sind, sondern auch die, die an der aktuellen Situation etwas ändern wollen. Weil eben nicht „nur“ der Einzelne von den Schäden betroffen ist, sondern die ganze Gesellschaft. Sie ist als Solidargemeinschaft gefragt, sich der Betroffenen anzunehmen und sie zu stützen.Minderjährige besonders gefährdet
Lars Sobiraj: Sind Kinder und Jugendliche besonders gefährdet, Opfer einer sexuellen Straftat zu werden? Norbert Denef: Ja, weil sie auf Hilfe und Schutz der Erwachsenen angewiesen sind. Sie „müssen“ die erlebte sexualisierte Gewalt verdrängen, um zu überleben und erleiden dadurch großen Schaden. Sie sind das schwächste Glied in der Kette der Gewalt. Sexualisierte Gewalt ist aus meiner Sicht wie eine Seuche zu bekämpfen. Lars Sobiraj: Sie sprechen oft von „sexualisierter Gewalt“, nicht von „sexuellem Missbrauch“. Können Sie uns den Grund erläutern? Norbert Denef: Kennzeichen und Voraussetzung für so genannten „sexuellen Missbrauch“ ist ein Machtgefälle zwischen Täter und Opfer. Genau dieses Machtgefälle drückt sich in dem Begriff „Missbrauch“ aus: Nur jemand der Macht hat, kann etwas oder jemanden ge- bzw. „missbrauchen“. Der Begriff „Missbrauch“ ist somit ein Terminus aus Täterperspektive. Die Person, die Opfer von sexualisierter Gewalt wurde, wird zum Missbrauchsobjekt. Der Objektstatus ent-menschlicht die Opfer. Er verhindert, dass Menschen, die Opfer von sexualisierter Gewalt wurden, als Rechtswesen in einem Rechtsstaat wahrgenommen werden. Als Menschen, die Rechte haben, deren Grenzen zu achten sind, und über die niemand einfach so verfügen darf. Der Objektstatus verführt dazu, die Opfer weiterhin zu übergehen, das Unrecht, das ihnen geschehen ist, zu verleugnen, ihnen ihr erlittenes Leid abzusprechen und die dringend benötigte Unterstützung zu verweigern. Die Verwendung des Begriffs „Missbrauch“ bzw. „sexueller Missbrauch“ unterschlägt die Tatsache, dass es sich eigentlich um einen Missbrauch von Macht handelt. Aus Täterperspektive ein durchaus positiver Effekt: Seine strafbaren Handlungen werden quasi unsichtbar, während die Verdinglichung des unschuldigen Opfers zum Missbrauchsobjekt bzw. Sexualobjekt zementiert wird. Bild oben links: Im Dezember 2006 suchte Norbert Denef vergeblich ein Gespräch mit der Gemeinde der Katholischen Kirche St. Maria in Delitzsch.Norbert Denef: Pädokriminalität statt Pädophilie
Lars Sobiraj: Sie sprechen von „Pädokriminalität“, nicht von „Pädophilie“. Warum? Norbert Denef: Der Begriff „Pädophilie“ bezeichnet das primäre sexuelle Interesse an Personen, die noch nicht die Pubertät erreicht haben. Er setzt sich zusammen von griechisch „pais“: Knabe, Kind und „philia“: Freundschaft. Übersetzt also „Knabenfreundschaft“ oder „Kinderfreundschaft“. Vonseiten der Wissenschaft wird „Pädophilie“ als psychische Störung angesehen, und zwar als Störung der Sexualpräferenz (Paraphilie).„Pädophilie“ wird von „Pädophilen“ häufig mit „Kinderliebe“ bzw. „Kinderfreundschaft“ übersetzt. Und tatsächlich wollen sich „Pädophile“ selbst oft am heftigsten von den anderen Sexualstraftätern (gegen Kinder) abgrenzen, indem sie darauf verweisen, dass sie sich Kindern in „Liebe“ annäherten und dass bei ihren Handlungen keine Gewalt im Spiel sei. Sie sehen sich selbst als „Freunde“ der Kinder, sprechen auch von „Verliebtheit“ in ein Kind, und geben vor, ihr (sexuelles) Interesse diene der „Befreiung“ der kindlichen Sexualität. Gerade aus Kreisen der so genannten „Pädophilen“ kommen die leidenschaftlichsten Plädoyers für die „unverfälschte, freie Entfaltung der kindlichen Sexualität“ und der „wahren, von prüden Zwängen befreiten Liebe zwischen Erwachsenen und Kindern“. Festzuhalten ist: Laut Definition bezeichnet „Pädophilie“ das primäre sexuelle Interesse an Kindern. Das heißt, es geht ganz klar um sexuelles Interesse. Nicht um „Liebe“, nicht um Freundschaft. Und auch um die Sexualität des Kindes geht es nicht, weder seine „freie“ noch seine „unfreie“. Es geht einzig und allein um den Erwachsenen. „Pädophilie“ ist also zuallererst einmal ein Ausdruck für das sexuelle Bedürfnis eines Erwachsenen, des Täters. Für Kinder und Jugendliche sind die Taten eine Katastrophe, ein Verbrechen.Strafrechtlich gesehen nur ein Vergehen und kein Verbrechen
Lars Sobiraj: Werden die Folgen sexualisierter Gewalt in der Gesellschaft unterschätzt? Um welche Folgen geht es? Norbert Denef: In der Regel berichten die Medien über die Täter. Wie sehr ein Opfer darunter leiden muss, das wird oft nur am Rande erwähnt, wenn überhaupt. Strafrechtlich wird „Sexueller Missbrauch“ von Kindern in Deutschland „nur“ als ein Vergehen bewertet, nicht als ein Verbrechen. Da ist es nicht verwunderlich, dass die Folgen sexualisierter Gewalt in der Gesellschaft unterschätzt werden. Gewalt kann zu langanhaltenden oder lebenslangen psychischen Störungen führen. Sowohl der Körper als auch auch die Seele erleiden Schäden. PTBS bedeutet Posttraumatische Belastungsstörung. Bei systematischer Gewalt sind die Folgen noch komplexer als bei einmaliger Erfahrung. Man spricht seit etwa 20 Jahren von einem „komplexen PTBS“. Das erstreckt sich über Angststörungen, Depressionen, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Dissoziative Störungen bis hin zur Dissoziativen Identitätsstörung und mehr. Die drei letztgenannten Störungen stehen besonders oft in engem Zusammenhang mit dem Erleiden von sexuellem Missbrauch im Kindheits- und Jugendalter. Manche Opfer werden suizidal, andere geraten ins existentielle Aus. Wir haben auch Kontakt zu einem Opfer, welches den Täter seiner zerstörten Jugendzeit später umgebracht hat. Eine Betroffene hat es mal in einem Kommentar bei netzwerkb.org auf den Punkt gebracht:„Ich werde die Erinnerungen nicht los. Beim Versuch es zu vergessen, habe ich mein Leben vergessen. Vieles ist einfach nicht mehr da. Die Jahre des Missbrauchs haben sich eingebrannt!“ Es geht um lebenslanges Leiden.“
Katholische Kirche: Ausgrenzung statt Hilfe
Lars Sobiraj: Warum ist die Dunkelziffer in diesem Bereich größer als bei anderen Straftaten? Norbert Denef: Die Betroffenen von sexualisierter Gewalt, die Jahrzehnte lang schweigen, können in keiner Statistik erfasst werden, eben weil sie schweigen. Deshalb ist es so schwer zu sagen, wie groß das Dunkelfeld wirklich ist. So lange sich in unserer Gesellschaft daran nichts ändert, dass Betroffene ausgegrenzt werden, wenn sie ihr Schweigen brechen, wird sich auch an der aufklärenden Arbeit, was die Dunkelziffer betrifft, nichts ändern. Der Gesetzgeber verstärkt diese Situation per Gesetz, in dem er durch die Verjährungsfristen die Betroffenen zum Schweigen zwingt. Sie müssen mit einer Verleumdungsklage rechnen, wenn sie nach Ablauf der Fristen ihr Schweigen brechen. Sie müssen erst recht schweigen. Als Opfer von sexualisierter Gewalt erkannt zu werden, davor haben die meisten Menschen Angst, denn dann wird man sehr schnell als schwach und nicht belastbar eingestuft. Solche Menschen finden oft keinen Platz in unserer Hochleistungsgesellschaft. Es folgt dann Ausgrenzung statt Hilfe. Lars Sobiraj: Warum werden im Moment so viele Fälle aus der römisch-katholischen Kirche publik? Norbert Denef: Solche Delikte kommen in anderen Institutionen genauso vor, nur sind diese Institutionen nicht so groß. Die römisch-katholische Kirche ist eine riesengroße Organisation. Sie ist nicht nur im Bereich der Seelsorge, sondern auch in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft tätig, zum Beispiel mit Schulen, Internaten, Kinderheimen, Krankenhäusern, Behinderteneinrichtungen und Seniorenheimen. Ihr Vermögen an Gebäuden und Grundstücken bis hin zu Unternehmensbeteiligungen wird allein in Deutschland auf mehrere hundert Milliarden Euro geschätzt, daran kann man die Größe dieser Organisation erkennen.Umgang mit den Tätern: Versetzung in andere Gemeinden oder in die Dritte Welt
Lars Sobiraj: Sind solche Täter in diesen bekannt gewordenen Fällen Serientäter? Norbert Denef: Ja, oftmals. Man geht davon, dass solche Täter ein- bis mehrere hundert Opfer in ihrem Leben hinterlassen. Die Kirche hat bis vor kurzem noch solche Täter einfach in andere Gemeinden versetzt. Viele von ihnen arbeiten dort nun auch heute noch, oder in der Dritten Welt. Die Verantwortung dafür trägt die Kirchenführung. Es ist gut, dass die Presse hier genauer nachfragt, aber das allein reicht noch nicht, wenn die Gesellschaft ihre Augen und Ohren verschließt. Lars Sobiraj: Wie kann man die Täter beschreiben? Norbert Denef: Ein Teil der Täter sind im engeren Sinne pädokriminell, andere missbrauchen ihre Machtstellung oder ihr Ansehen und suchen sich Opfer, die sich nicht widersetzen können. Im Ausland, wo solche Täter oft zu 20 Jahren Gefängnis und mehr verurteilt werden, werden sie von den Kriminologen als systematisch und manipulativ geschildert. Bild rechts: Norbert Denef, netzwerkB, wird zusammen mit Mitgliedern von SNAP im November 2010 von der Vatikan-Polizei vom St. Petersplatz verwiesen.Norbert Denef: „Ich habe nur funktioniert…“
Lars Sobiraj: Herr Denef, Sie ließen sich vom Täter später noch trauen? Norbert Denef: In meinen vielen Jahrzehnten des Schweigens fühlte ich nichts und habe nur funktioniert. Ich konnte mich nicht konzentrieren auf das, was im Augenblick geschah, sondern existierte immer nur in der Abspaltung. Als Kind ist man gezwungen, traumatische Erlebnisse ins Unterbewusstsein zu verdrängen, um zu überleben. In so einem Zustand der Abspaltung fühlt man keinen Schmerz, sondern versucht sich immer wieder nur selbst zu verletzen, um sich zu spüren. Das kann helfen, sich von intensiven Gefühlseindrücken und Empfindungen, wie Ärger, Wut, Traurigkeit, Einsamkeit, Scham, Schuld und anderen seelischen Qualen zu befreien. Sich von seinem Peiniger trauen zu lassen, stellt eine Selbstverletzung im übertragenen Sinne dar. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man sich und auch andere verletzt, weil man selbst in der Kindheit Gewalt erfahren musste. Lars Sobiraj: Was verstehen Sie unter „das Schweigen brechen“? Norbert Denef: Shakespeare hat es auf den Punkt gebracht:„Was, Mann! zieh nicht den Hut so in die Stirn: Gib Leiden Worte; Schmerz, der nicht frei spricht, Flüstert im Herzen, bis es birst und bricht.“Die große Mehrheit der Opfer kann lange nicht über das erfahrene Leid sprechen, der Druck und der Schmerz verschlägt ihnen die Sprache, viele können ihr Leben lang nicht darüber sprechen. Vor allem aber muss sich die Gesellschaft endlich bewegen. Wenn Sie die Statistik des Bundeskriminalamtes hochrechnen, sprechen wir von Millionen von Opfern, allein in Deutschland. Die Gesellschaft darf nicht länger schweigen. Wir sprechen über ein Massenverbrechen.
Norbert Denef: „Die Politik darf die Opfer von Gewalt nicht mehr länger vorführen.“
Lars Sobiraj: Welche Hilfe brauchen die Opfer? Norbert Denef: Die Opfer benötigen mehr Ansprechpartner und Schutz vor Ort. Das gilt für die Opfer von körperlicher, seelischer und sexualisierter Gewalt. Ein acht Jahre altes Mädchen kann sich nicht in den Zug setzen, um in der nächstgrößeren Stadt nach einer Beratungsstelle suchen. Die Opfer brauchen eine würdevolle Anerkennung ihrer Schäden. Die Opfer brauchen auch Therapiemöglichkeiten. Die Politik darf die Opfer von Gewalt nicht mehr länger vorführen. Die Entschädigungen und Hilfen für Gewaltopfer sind lächerlich. Wir leben noch immer in einer Täterkultur. Lars Sobiraj: Können Sie uns Ihren Standpunkt erläutern, warum die Opfer auch eine finanzielle Entschädigung benötigen? Norbert Denef: Wenn Sie einen Autounfall haben und Ihr Auto Totalschaden hat, der Verursacher des Schadens eindeutig feststeht, bekommen Sie diesen Schaden ersetzt, gegebenenfalls wird die Entschädigung per Gerichtsbeschluss entschieden. Geht es um Schäden, die durch sexualisierte oder andere Gewalt hervorgerufen werden, finden diese in Deutschland kaum Beachtung. Es geht nicht darum, warum „Opfer“ eine finanzielle Entschädigung benötigen, die Frage ist falsch gestellt, es geht darum, dass „Opfer“ ein Recht auf eine Entschädigung haben. Zu den Folgen muss man auch rechnen, wie sich das Leben und der berufliche Werdegang hätte entwickeln können, wenn sie kein Trauma durchlitten hätten. Auch die Angehörigen von Betroffenen sexualisierter Gewalt nehmen Schaden. Sie haben auch ein Recht auf Entschädigung.Die vorgeschlagenen Pauschalen sind nur Almosen für die Opfer.
Lars Sobiraj: Ist es mit Pauschalen getan, wie es die Jesuiten vorschlagen? Norbert Denef: Jede Tat ist individuell, jedes Leid ist individuell, auch die Folgen. Mit der Zahlung eines Pauschalbetrag ist das nicht gelöst. Bei den vorgeschlagenen Pauschalen geht es um ein Almosen. In einigen Fällen bietet man stattdessen zusätzlich ein Gespräch zur Versöhnung mit dem Täter an. Genauso wenig kann das Argument greifen, die einzelnen GmbHs und sonstigen Organisationen verfügten nicht über genügend Kapital. Hier drückt man sich vor der Verantwortung, die Gerechtigkeit für die Opfer steht immer noch an hinterster Stelle. Hier drückt sich Verachtung aus. Lars Sobiraj: Wie hoch sollte eine Entschädigung sein? Norbert Denef: Es kann doch nicht sein, dass hier in einer der reichsten Industrienationen der Welt ein Mensch weniger wert ist als zum Beispiel eine Maschine in einer Fabrik. Eine Entschädigung in Deutschland muss unbedingt an internationale Maßstäbe wie in den USA angepasst werden. In den USA wurden in tausenden Fällen von sexualisierter Gewalt eine Entschädigung in der Höhe von etwa 1 Million Dollar zugesprochen. Patrick Raggett, der jahrelang als Schüler von einem Priester an einem Jesuitenkolleg vergewaltigt wurde, erstritt sich am High Court in London das Recht, eine Schadensersatzklage in Höhe von fünf Millionen Pfund einreichen zu dürfen. Er bereitet nun die Hauptklage vor. Update: Am Ende erhielt er etwas weniger als 55.000 Britische Pfund. Die deutsche Politik hält ein paar tausend Euro für angemessen. Als Sozialfall muss soll man sich an die Krankenversicherung wenden. Real werden nicht einmal die Therapiekosten abgedeckt. Das Opferentschädigungsgesetz ist uneffektiv. Vielleicht bekommt man als Gewaltopfer noch ein bisschen Unterstützung vom Weissen Ring. Das kann nicht wahr sein.Wie viel ist angemessen?
In Deutschland müssen auch angemessene Entschädigungen in sechstelliger Höhe und von da an aufwärts möglich sein. Es muss unter anderem auch das berücksichtigt werden, was Opfer von physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt in ihrem Leben aufgrund der Belastungen nicht leisten konnten und können, welche Lebensfreude ihnen entgangen ist. Anstelle von einmaligen Zahlungen müssen auch monatliche Hilfen diskutiert werden. Es muss möglich sein, Täter und Arbeitgeber in die Verantwortung zu ziehen, und zwar auch unabhängig davon, ob der Arbeitgeber davon wusste, dass er einen Verbrecher beschäftigt. Dort, wo Täter und ggf. ihre Arbeitgeber nicht mehr greifbar sind, zum Beispiel im familiären Bereich, machen zusätzliche Hilfsfonds Sinn. Bild rechts: Norbert Denef, netzwerkB, zusammen mit zwei Vertreterinnen von SNAP, beim Treffen mit Josef Winkler, Stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Bundesfraktion Bündnis 90/Die Grünen, und Siegmund Ehrmann, Beauftragter der SPD-Bundestagsfraktion für Kirchen und Religionsgemeinschaften, im März 2010 im Bundestag.Treffen mit Betroffenen nicht ohne Gefahren
Lars Sobiraj: Was halten Sie von der Offerte einiger Orden, dass sich Opfer mit den Tätern zum Gespräch treffen können? Norbert Denef: Generell kann das Aufeinandertreffen von Opfern mit dem Täter ein gefährlicher Auslöser sein für eine weitere Traumatisierung. In deutschen Gerichten vermeidet man es, Zeugen in Anwesenheit der Täter zu befragen. Lars Sobiraj: netzwerkB hat auch Forderungen für die Fristen in der Gesetzgebung. Können: Sie diese Forderung erläutern? Norbert Denef: Die Barrieren gerade bei Opfern im kindlichen und jugendlichen Alter enden nicht beim 18. Geburtstag, sondern dauern Jahre und Jahrzehnte. Der Bundesgerichtshof hat dies 2011 erstmals in einem einzelnen Fall anerkannt. netzwerkB setzt sich generell für die Aufhebung der Verjährungsfristen von sexualisierter Gewalt ein, weil auch die Schäden lebenslang bleiben. Wir sprechen über zerbrochene Seelen, über Seelenmord. Die Opfer leiden lebenslang, deshalb darf ihr Anspruch auf Hilfe ebenfalls lebenslang nicht verjähren. Wir brauchen bessere gesetzliche Regelungen, damit die Opfer rechtiches Gehör erhalten. Wir haben im Oktober 2019 eine eigene Online-Petition gestartet.Norbert Denef: Delikte oftmals später noch beweisbar
Lars Sobiraj: Sind die Delikte denn nach Jahrzehnten noch beweisbar? Norbert Denef: Ja. Es gibt ja oftmals Ermittlungsakten, in denen der Fall eigentlich klar war. In vielen Fällen liegen Geständnisse der Täter, Aussagen von Opfern und Zeugen, Tagebücher, Briefe und Ähnliches vor. Manchmal finden sich sogar Bildaufnahmen und Filme. Lars Sobiraj: Wie ist die Situation in anderen Ländern? Norbert Denef: Wir stehen zum Beispiel in Kontakt zu SNAP in Connecticut, wo die Bischöfe der örtlichen Bistümer gerade erfolgreich verhindert haben, dass die Frist im Zivilrecht vom Parlament ganz aufgehoben wird. In Connecticut ging es konkret um den Fall Reardon mit mehr als einhundert klagenden Opfern. 2008 fand man bei Renovierungsarbeiten seines ehemaligen Hauses 50.000 Dias und etwa 100 Filme von seinen Opfern. Er war ein Chefarzt in einem Krankenhaus in kirchlicher Trägerschaft. Auf den Aufnahmen waren über dreihundert Kinder zu erkennen. Die Kirche kämpft hier vehement gegen die Aufhebung der zivilrechtlichen Fristen. Lars Sobiraj: Nützt den Opfern eine Anerkennung noch nach jahrzehntelangem Leid? Norbert Denef: Ja, die Anerkennung ist enorm wichtig. Schauen Sie, Eva Dubuisson wurde in Gent, Belgien, als 14jähriges Mädchen von einem Priester und drei weiteren Männern vergewaltigt. Man steckte das Mädchen 1950 in eine Besserungsanstalt, um sie zum Schweigen zu bringen. Nach 55 Jahren, als 70 Jahre alte Frau, schaffte sie es erst, Gerechtigkeit zu finden. Die Kirche sicherte ihr 2005 sogar eine Entschädigung zu. Später versuchte die Kirche allerdings noch, den versprochenen Betrag zu halbieren.netzwerkB braucht mehr Mitglieder
Auch in Deutschland müssen Anerkennungen nach einer solch langen Zeit noch möglich sein. Lars Sobiraj: Wie gut kommt Ihre Organisation voran, welche Probleme gibt es? Norbert Denef: Durch unsere Öffentlichkeitsarbeit sind wir nicht nur in Deutschland bekannt geworden, sondern auch weltweit. Wir erhalten fast täglich neue Mitglieder. Einen Einblick in unsere Arbeit finden Sie hier. Wir brauchen mehr Mitglieder, um unsere Arbeit sicherzustellen. Wir geraten auch ständig unter massiven Druck durch Drohungen und Abmahnungen wegen unserer Öffentlichkeitsarbeit. Unsere Kasse steht ständig vor dem Aus. Wir sind dringend auf Unterstützung angewiesen. Lars Sobiraj: Wie sind die Reaktionen auf Ihre Öffentlichkeitsarbeit? Norbert Denef: Sehr positiv, wir erhalten viel Zuspruch. Natürlich gibt es auch einige, denen das nicht passt, dass wir den Finger in die Wunde halten und etwas an der aktuellen Situation ändern wollen. Wir sind manchmal auch dort, wo wir nicht eingeladen wurden, wie zum Beispiel auf dem Ökumenischen Kirchentag in München. Bei vielen Veranstaltungen werden wir schon am Eingang abgewiesen oder von Saalordnern wieder herausgeschickt. Beim Besuch des Petersplatzes in Vatikanstadt wurden wir von der Gendarmeria des Vatikans vom Ort verwiesen. Ein Souvenirverkäufer, der mehr über uns wissen wollte, hatte sich später als Spitzel der Polizei entpuppt. So trug ich zum Beispiel ein Bild von mir als Ministrant bei mir. Das war ich damals, bevor ich zum Opfer gemacht wurde. Das gefiel nicht.netzwerkB darf sich nicht am Runden Tischen in Berlin beteiligen
Lars Sobiraj: Was halten Sie vom Runden Tisch in Berlin? Norbert Denef: Am „Runden Tisch Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ dürfen wir auch nicht teilnehmen. Allerdings muss man dazu sagen, dass auch sonst keine Betroffenen vor Ort sind. Wir haben vielfach dagegen protestiert. Es wird nur über die Opfer gesprochen, aber nicht mit ihnen. Die gleiche Augenhöhe fehlt. Dafür sind die Organisationen der Täter, also Institutionen, Arbeitgeberverbände und Berufsverbände zuhauf vertreten. Letztlich schützt sich auch der Staat selbst als Arbeitgeber. Das ist eine Lösung der Bundesregierung und anderer Organisationen auf feudale Art. Die Probleme der Opfer werden so nicht gelöst. Lars Sobiraj: Gibt es nicht auch eine Expertenrunde? Norbert Denef: Es wurde nun zum Schluss ein kleiner Kreis zum Katzentisch eingeladen, der kurz vor Abschluss des Runden Tischs im Mai 2011 noch etwas sagen soll. Die Mehrzahl der Organisationen aus dem Bereich der Hilfe für Opfer wurde nicht einladen bzw. nimmt daran auch nicht teil.Norbert Denef: „Wir müssen mehr hinsehen.“
Lars Sobiraj: Wie sollte eine Lösung in unserer Gesellschaft aussehen? Norbert Denef: Wir leben in einer Solidargemeinschaft. Wir müssen mehr hinsehen. Wir müssen die Opfer mehr unterstützen. Die Täter müssen stärker in die Verantwortung gezogen werden. Unsere Gemeinschaft braucht eine Idee, nämlich die Vision einer gewaltfreien Gesellschaft. Dabei kann man physische, psychische und sexualisierte Gewalt auch nicht mehr so getrennt sehen, wie man es bisher tat. Um diese Vision voranzutreiben, werden wir zusammen mit anderen Organisationen und Einzelpersonen ein offenes „Bündnis gegen Gewalt“ ins Leben rufen. Wir wollen uns gegen Gewalt vernetzen und freuen uns über jeden, der es unterstützt. Das soll im Frühjahr 2011 starten. Sie finden es unter www.buendnis-gegen-gewalt.de im Internet. Wenn wir in einem einzigen Fall verhindern konnten, dass ein Mensch zum Opfer von Gewalt wurde, oder dazu beitragen konnten, dass einem Opfer geholfen wurde, hat sich diese Arbeit schon gelohnt. Lars Sobiraj: Wir danken Ihnen sehr für dieses Gespräch und wünschen Ihnen für Ihre Arbeit alles Gute!Beitragsbild: Norbert Denef, netzwerkB und SNAP in Vatikanstadt, 2010.
Fotograf: NieMehrSchweigenMüssen, thx! (CC BY-SA 3.0)
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