Wir haben uns kürzlich ausführlich mit Benjamin Bremert, einem Mitbetreiber der deutschen Rechtsprechungsdatenbank openJur unterhalten.
Dass Wissen Macht ist, weiß man auch bei openJur. Dies ist eine freie Rechtsprechungsdatenbank, die es schon seit 14 Jahren gibt. Im Internet ist das quasi eine Ewigkeit. Sie wird von einer gemeinnützigen Firma in Hamburg betrieben. openJur dokumentiert die deutsche Rechtsprechung. Und dies unabhängig von jeglichen politischen oder wirtschaftlichen Interessen.
Mehr als 600.000 frei im Volltext verfügbare Gerichtsentscheidungen sind dort vorhanden. Sie wurden bislang bereits mehr als 400 Millionen mal abgerufen. Das Gespräch führte der freie Korrespondent von tarnkappe.info, Bernd Rohlfs, vielen Dank!
openJur war anfangs ein studentisches Projekt
Unter openjur.de findet man ein riesige Anzahl deutscher Gerichtsentscheidungen. Wie kam es zu diesem Projekt? Was ist Ihre Motivation?
Benjamin Bremert: In den Ursprüngen war openJur ein studentisches Projekt. Ich habe mich in der Uni immer geärgert, dass Gerichtsentscheidungen schlecht verfügbar waren. Und da die Uni Kiel damals keine Möglichkeit zum Zugriff auf die kommerziellen Datenbanken von Zuhause angeboten hat, waren die Optionen außerhalb der Uni sehr begrenzt.
Anfangs hatten wir die Hoffnung, dass es einfach noch niemand probiert hat und ein solches Projekt vielleicht nicht an allzu großem Widerstand scheitern sollte. Wir wurden allerdings recht schnell von der Realität eingeholt, als wir im ersten Schritt alle Oberlandesgerichte und Oberverwaltungsgerichte angeschrieben haben, und um generelle Aufnahme auf die Entscheidungsverteiler gebeten haben. Einzig in Hamburg sind wir mit unserer Anfrage direkt auf offene Ohren gestoßen.
Man muss nach fast 15 Jahren allerdings sagen, dass sich die Situation mittlerweile zwar gebessert hat, die Gesamtveröffentlichungslage allerdings noch immer sehr bescheiden ist. Dazu muss man auch berücksichtigen, dass wir natürlich ursprünglich nicht nur Rechtsprechung nachweisen wollten, sondern auch auf Grundlage des Bundesgesetzblattes das konsolidierte Bundesrecht in openJur einstellen wollten. Die Situation beim Zugang zum Bundesgesetzblatt bzw. den Gesetzes- und Verordnungsblättern der Länder ist allerdings noch dramatischer, als die Veröffentlichungssituation der Rechtsprechung.
613.697 Entscheidungen im Volltext verfügbar
Wie viele Entscheidungen und Gesetze haben sie in der Datenbank? Wie hoch sind die Zugriffszahlen?
Benjamin Bremert: Stand heute weisen wir bei openJur 613.697 Entscheidungen im Volltext nach, zu weiteren 575.984 Entscheidungen verfügen wir über Metainformationen. Die Zugriffszahlen können wir nicht genau benennen, da wir kein individuelles Logging betreiben, aber es dürfte sich monatlich um rund drei bis vier Millionen Zugriffe handeln.
Wie viele Menschen arbeiten hier mit?
Benjamin Bremert: Das aktive Kernteam besteht aus drei Personen.
Was können Sie privat zu den Gründern und Aktiven des Projekts sagen? Welchen beruflichen Hintergrund haben Sie? Wie viel Zeit investieren Sie monatlich? Werden Sie vergütet bzw. bezahlt?
Benjamin Bremert: Der Vorstand von openJur besteht aus einem Informatiker und mir, einem Juristen. Wir sind beide im Finanzsektor tätig, ich bin Syndikusanwalt bei einer Bank und für beide ist die Tätigkeit bei openJur reine Freizeitbeschäftigung. Ich würde schätzen, dass mein persönlicher Aufwand für openJur jeden Tag mindestens ein bis zwei Stunden ausmacht.
Alle bei und für openJur tätigen Personen arbeiten ehrenamtlich, insoweit wird niemand vergütet oder bezahlt.
Ein gemeinnütziger Verein kontrolliert die Tätigkeit
Laut Impressum ist der Träger des Projekt eine gemeinnützige Unternehmergesellschaft (gUG). Wie finanzieren Sie Ihr Projekt?
Benjamin Bremert: Die Betreiberin der Datenbank ist die gemeinnützige Unternehmergesellschaft, die zu 100% von dem gemeinnützigen Verein kontrolliert wird, der die Datenbank bis 2020 betrieben hat. Die Entscheidung für diese Struktur ist vor allem den zahlreichen ungeklärten rechtlichen Fragen geschuldet, die mit der Entscheidungsveröffentlichung einhergehen und sich auch in unserem aktuellen Gerichtsverfahren realisiert haben.
Der Betrieb ist seit einigen Jahren komplett spendenfinanziert, vorher haben die Vereinsmitglieder die Kosten alleine getragen. In der Regel sammeln wir einmal im Jahr am Jahresende Spenden für den technischen Betrieb im kommenden Jahr, dabei kommen dann zwischen 2000 und 3000 Euro zusammen und dann wird der Spendenaufruf wieder beendet. Davon haben wir neben dem Housing dann auch Ersatzhardware und sonstige Betriebskosten bezahlt.
Wie erhalten Sie die Texte der Entscheidungen?
Benjamin Bremert: Wir beziehen Entscheidungen über drei Wege: Entweder stellen wir solche Entscheidungen bei openjur ein, die von den Gerichten proaktiv über irgendeinen Veröffentlichungskanal veröffentlicht werden, wir erhalten Entscheidungen von Dritten oder wir fragen bei Gerichten nach Entscheidungen.
Kann man auch anregen, bestimmte Entscheidungen aufzunehmen? Was wäre der Weg hierzu?
Benjamin Bremert: Wir haben eine sog. Entscheidungsanforderungsfunktion, hier kann man auf der Profilseite des jeweiligen Gerichts auf openJur unter Angabe des Entscheidungsdatums und Aktenzeichens eine Veröffentlichung vorschlagen. In der Folge wird die Entscheidung dann von uns bei Gericht angefragt und veröffentlicht. Alternativ – sofern die Entscheidung bereits vorhanden ist – kann man uns die Entscheidung auch per E-Mail an entscheidungen@openjur.de zuschicken.
Das Kernsystem von openJur hat man selbst entwickelt
Mit welcher Serverarchitektur und welcher Software arbeiten Sie?
Benjamin Bremert: Wir betreiben derzeit zwei dedizierte IBM-Server in einem Rechenzentrum in Hamburg. Diese Systeme wurden uns vor einigen Jahren von einem Hamburger Unternehmen zur Verfügung gestellt, als sie in die Cloud gegangen sind und ihre eigene Server-Hardware dekommissioniert haben. Auf diesen Hostsystemen läuft Proxmox zur Virtualisierung von einigen V-Hosts mit verschiedenen Funktionen (Webserver dynamisch/statisch, Datenbanken, Suchserver, E-Mail) innerhalb des openJur-Systems. Als Webserver setzen wir in der Regel nginx ein und als Datenbankserver Percona (mySQL-Basis). Das Kernsystem basiert auf einer Eigenentwicklung in PHP mit einigen Backend-Komponenten in Rust. Künftige Funktionalität setzen wir gerade mit der GraphenDB neo4j um, mit Vektordatenbanksystemen finden aktuell Tests statt. Es geht gerade um die bessere Suche, Vernetzung und Ähnlichkeitsvorschläge.
Kommentarfunktion weiterhin geplant
In der Anfangszeit 2008 war auch eine Kommentarfunktionen angekündigt. Was ist daraus geworden?
Benjamin Bremert: Daraus ist im ersten Schritt tatsächlich leider gar nichts geworden. Wir hatten – was natürlich auch einiger gewissen Naivität geschuldet war – die Hoffnung, dass uns alleine bei der Entscheidungsveröffentlichung nicht so viele Steine in den Weg gelegt würden, wie es in den Jahren danach deutlich wurde. openJure wäre gerne deutlich weiter.
Wir arbeiten aber derzeit an einer besseren Übersendungsfunktion und der Möglichkeit direkt inhaltlich an openJur mitzuarbeiten, das geht dann mit einer Registrierungsmöglichkeit einher, die dann natürlich auch weitere Funktionalitäten ermöglichen könnte. Es wird sicherlich keine weiteren 15 Jahre dauern, aber mit konkreten Vorhersagen bin ich aktuell eher vorsichtig.
Das liegt auch daran, dass wir noch an zahlreichen Backend-Funktionen arbeiten, die auch mit dem aufsichtsbehördlichen Verfahren beim Hamburger Beauftragten für den Datenschutz und Informationsfreiheit zusammenhängen und am Ende dafür sorgen können, dass wir Anonymisierungsfehler besser erkennen und schneller beseitigen können. Eine Anforderung, die man meines Wissens übrigens in dieser Form nur uns stellt und nicht unseren kommerziellen Mitbewerbern.
Sie bemühten sich mehrere Jahre lang zusammen mit Lukas Mezger, Vorsitzender von Wikimedia und selbst Jurist, eine Veröffentlichung des Orginaltextes des Grundgesetzes zu erwirken. Waren Sie erfolgreich?
Benjamin Bremert: Ja, die Digitalisate haben wir Anfang des Jahres recht überraschend bekommen, nachdem wir eine Klage in Aussicht gestellt haben. Seitdem sind die Dateien bei uns und in der Wikipedia abrufbar. Wieso die Bundestagsverwaltung da nicht selber und früher drauf gekommen ist, ist mir wirklich ein großes Rätsel. Gerade anlässlich des 75. Geburtstags des Grundgesetz hätte sich das wirklich angeboten.
Was ist bei der Veröffentlichung zu beachten?
Einen urheberrechtlichen Schutz haben gerichtliche Entscheidungen ja nicht. Was ist sonst bei der Veröffentlichung zu beachten?
Benjamin Bremert: Wie man nicht zuletzt an der aktuellen Klage vor dem Landgericht Hamburg sieht, sind bei der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen inbesondere Datenschutzrecht und Persönlichkeitsrechte zu beachten. Auf Urheberrechte kann sich richtigerweise weder der Staat noch die für den Staat tätigen Dienstleister oder sonstige Private berufen. Jedenfalls wenn es um die bloße Veröffentlichung der Entscheidungstexte geht.
Gegenseite entschied sich zur Klage statt einer Anfrage per E-Mail
Gegen Sie ist eine Klage am Landgericht Hamburg anhängig (324 O 278/23). Es geht um eine Schadenersatzforderung nach der Datenschutz-Grundverordnung. Wie kam es dazu?
Benjamin Bremert: Am Anfang stand ein Fehler in der in einer Landesrechtsdatenbank veröffentlichten Entscheidung. Wir haben diese Entscheidung automatisiert übernommen und insoweit natürlich auch den Fehler übernommen. Da die Entscheidung zu diesem Zeitpunkt bereits durch die Hände von mindestens zwei Akteuren gegangen sein muss, gehen wir auch nicht von proaktiven Prüfungspflichten aus.
In der Folge hat man uns abgemahnt, Unterlassung und Beseitigung gefordert sowie umfangreiche Auskunftsansprüche geltend gemacht. Der Beseitigung sind wir – selbstverständlich – binnen Minuten nachgekommen, hinsichtlich der Auskunft haben wir auf unsere Datenschutzinformationen verwiesen. Nur den Unterlassungsanspruch und den geforderten Kostenersatz haben wir zurückgewiesen, da wir nicht von einer Wiederholungsgefahr ausgehen.
Offen gestanden finde ich es bedauerlich, dass man als Betroffener der selbst Rechtsanwalt ist, nicht einfach eine Mail schreiben oder die Meldefunktion nutzen möchte.
openJur ist nicht von Freiwilligen abhängig
Haben freie Projekte noch eine Perspektive? Bei der Wikipedia gehen die Zahlen der Autoren und Administratoren seit Jahren abwärts und neue sind kaum noch zu gewinnen. Wie sieht es bei Ihnen aus? Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Benjamin Bremert: Ich denke das hängt sehr individuell von dem jeweiligen Projekt ab. Wir haben den Betriebsaufwand immer schon selbst getragen, insoweit sind wir bisher nicht von Freiwilligen abhängig. Gerade die letzte Zeit ist der Aufwand allerdings immer größer geworden, sodass das Betriebsmodell von openJur in dieser Form nicht nachhaltig sein kann und die Arbeit auf mehr Schultern verteilt werden muss. Für die Zukunft wünsche ich mir ein höheres Maß an Veröffentlichungstätigkeit der Justiz.
Es kann schlicht nicht sein, dass man mehr als 25 Jahre nach der Grundsatzentscheidung des BVerwG zur Veröffentlichungspflicht der Gerichte noch immer täglich mit Volljuristen über dieses Thema diskutieren muss. Für diese Tätigkeit müssen die Gerichte aber auch – gerade in der Verwaltung – entsprechende Kapazitäten haben. Und die beteiligten Personen müssen für die Tätigkeit geschult sein. Das hängt am Ende auch an der adäquaten Finanzierung der Justiz, ein leider eher unpopuläres Thema in der Politik.
Herr Bremert, wir bedanken uns herzlich für dieses Gespräch! Unser Dank gilt auch Bernd Rohlfs, der ursprünglich die Idee zu diesem Interview hatte und es eigenständig für uns durchgeführt hat.
Wer die gemeinnützige Plattform mit einer Spende unterstützen möchte, kann dies hier tun. Wer ihnen folgen will: openJur gibt es derzeit bei Instagram und bei den Kurznachrichtendiensten X (ehemals Twitter) und Mastodon.